Zehn Jahre Kosovo Staat der geplatzten Träume

Am 17. Februar 2008 rief Kosovo seine Unabhängigkeit aus. Heute würden die meisten jungen Menschen dort ihre Heimat am liebsten verlassen. Ein Beispiel für erfolgreiche Staatsbildung ist das Land nicht.

Samstag, 17.02.2018  
15:00 Uhr

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„Europas Gefängnis“, „arm, heruntergewirtschaftet und korrupt“, „beherrscht von einer kriminellen politischen Klasse und erbärmlichen internationalen Verwaltern“ – viele kosovarische Leitartikler und Publizisten sparen dieser Tage nicht mit drastischen Worten, um den Zustand ihres Landes zu beschreiben.

Dabei steht ein großes Jubiläum an: Vor zehn Jahren, am 17. Februar 2008, rief Kosovo seine Unabhängigkeit aus. Damals herrschten Stolz und Euphorie. Heute sind nur wenige Menschen im Land in Feierlaune. „Kosovo begeht das Jubiläum als isoliertestes und ärmstes Land Europas und als Land, das nicht nur ökonomische, sondern auch zivile und politische Freiheiten beschneidet“, schreibt der Politikexperte Agron Demi vom GAP-Institut in Pristina.

Europas jüngster Staat mit seinen 1,9 Millionen Einwohnern hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten als Uno-Protektorat und später als eigenständiger Staat von der internationalen Gemeinschaft Milliardenhilfen erhalten. Dennoch findet er nicht aus seiner Existenz als Provisorium heraus, in dem Korruption und organisiertes Verbrechen gedeihen.

Neben Russland und Weißrussland ist Kosovo das einzige europäische Land, dessen Bürger nicht ohne Visum in die EU einreisen dürfen. Viele Kosovaren fühlen sich deshalb eingesperrt. Weil Staaten wie Russland und China und fünf EU-Länder Kosovo nicht anerkennen, kann das Land in den meisten internationalen Organisationen nicht Mitglied werden. Zudem ist Kosovo faktisch geteilt: Der von Serben bewohnten Norden wird von Serbien kontrolliert und ist ein rechtsfreier Raum.

„In den letzten zehn Jahren wirtschaftlich und sozial kaum vorangekommen“

Kosovo ist nach der Republik Moldau das ärmste Land Europas. Rund ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung hat offiziell keine Arbeit, es gibt wenige Auslandsinvestoren, das Land produziert kaum etwas. Neben den internationalen Finanzhilfen lebt Kosovo vor allem von den Überweisungen der Auslandskosovaren.

Regiert wird das Land von einer Allianz ehemaliger Kommandanten der Kosovarischen Befreiungsarmee (UCK) und ihrer Netzwerke, die Wahlen notfalls fälschen lässt. Praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit bestimmt sie die Geschicke des Landes, häufig in intransparenten Absprachen mit Vertretern der internationalen Gemeinschaft.

„Kosovo ist in den letzten zehn Jahren wirtschaftlich und sozial kaum vorangekommen, politisch ist die Situation sogar noch schlechter, denn die korrupte Elite sitzt noch fester im Sattel als vor zehn Jahren“, bilanziert der Ökonom und Wirtschaftsrechtler Andrea Lorenzo Capussela, der von 2008 bis 2011 die ökonomische Abteilung der Internationalen Zivilbehörde (ICO) für Kosovo leitete.

Capussela veröffentlichte 2015 das Standardwerk „Staatsbildung in Kosovo. Demokratie, Korruption und die EU auf dem Balkan“. Im Gespräch mit dem SPIEGEL sagt er: „Die Staatsbildung in Kosovo ist zwar nicht schief gelaufen wie in Afghanistan und Irak, aber sie ist auch nicht das Beispiel erfolgreicher westlicher Intervention, als das es oft dargestellt wird. Natürlich herrscht eine gewisse Stabilität im Land, aber wenn wir Staatsbildung daran messen, ob es demokratisch legitimierte Institutionen und ökonomische Entwicklung gibt, dann ist Kosovo kein Erfolgskapitel.“

Die Stagnation in Kosovo wurde immer deutlicher

Der Kardinalfehler der internationalen Gemeinschaft sei es gewesen, nach dem Ende des Kosovo-Krieges 1999 die verschiedenen Guerilla-Gruppen der UCK nicht zu entwaffnen. Sie hätten daher ihre militärische Macht in politische und wirtschaftliche Macht ummünzen können, so Capussela. Das habe Korruption und Intransparenz tief zementiert.

Die Stagnation in Kosovo wurde besonders in den vergangenen Monaten immer deutlicher. Seit September regiert in Pristina eine Koalition der Parteien des so genannten „Kriegsflügels“ mit dem ehemaligen UCK-Kommandanten Ramush Haradinaj als Regierungschef. Früher Konkurrenten, eint sie jetzt die Furcht vor der Justiz: Die Anführer des „Kriegsflügels“ und Dutzende weitere prominente Ex-UCK-Kommandanten könnten wegen Kriegsverbrechen vor dem Kosovo-Sondergericht in Den Haag, das demnächst seine Arbeit aufnimmt, angeklagt werden. Das möchten die Ex-Rebellen verhindern – Staatspräsident Hashim Thaci etwa bezeichnete das Gericht wiederholt als „historische Ungerechtigkeit“.

Auch der von der EU in Brüssel moderierte Dialog Kosovos mit Serbien zur Regelung der gegenseitigen Beziehungen liegt wieder auf Eis. Nach längerer Unterbrechung hatte er Mitte Januar neu beginnen sollen, doch nach dem Mord an dem kosovarisch-serbischen Politiker Oliver Ivanovic hat Belgrad den Dialog unbefristet ausgesetzt. Der kosovarischen Führung kommt das nicht ungelegen. Sie ist beispielweise strikt gegen kollektive Minderheitenrechte für die serbischen Gemeinden im Land, wie sie von Serbien und auch von Brüssel gefordert werden.

Angesichts der Stagnation und der Perspektivlosigkeit vor allem für viele junge Menschen flohen in jüngerer Vergangenheit immer wieder massenweise Menschen aus Kosovo, zuletzt Anfang 2015, als binnen weniger Wochen zehntausende Kosovaren nach Westeuropa reisten. Sollte die EU die Visabeschränkungen aufheben, dürfte sich der Exodus wohl noch einmal verstärken. Der Soziologe Gëzim Krasniqi schreibt deshalb: „Insgesamt bietet Kosovos Jahrzehnt der Unabhängigkeit wenig Grund zum Feiern. Heute kommt die Hauptbedrohung nicht mehr von Ländern, die Kosovos Staatlichkeit nicht anerkennen, sondern von den geplatzten Träumen seiner jungen Menschen, die Zweifel an der Lebensfähigkeit eines kosovarischen Staates haben.“

Zusammengefasst: Am Samstag feiert der Kosovo den zehnten Jahrestag seiner Unabhängigkeit. Grund zum Feiern gibt es nicht: In dem Land gedeihen Korruption und organisiertes Verbrechen, wirtschaftlich ist Pristina von internationalen Finanzhilfen und Auslandsüberweisungen angewiesen. Politisch ist die Macht der einstigen Unabhängigkeitsguerilla UCK ungebrochen. Viele der 1,9 Millionen Einwohner wollen nur noch weg.

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