EU-Haushalt Wir sind kein Volk. Noch nicht

Darf die EU agieren wie ein Staat und Steuern erheben? Brüssel will das, denn die Union braucht mehr Geld. Kann das gut gehen?

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Sonntag, 18.02.2018  
12:43 Uhr

So begannen früher Revolutionen: Mit dem Slogan No taxation without representation startete die „Boston Tea Party“ 1773 den Aufstand der Bewohner der nordamerikanischen Kolonien gegen die britische Krone: Er führte zur Unabhängigkeit der USA.

Seither ist dies der Kern der westlichen Demokratien: Wer zahlt, schafft an. Das Volk und seine Vertreter entscheiden, wie viel der Staat kassieren und wofür er es ausgeben darf. Die Regierung mag die Geschäfte führen. Die Mittel muss sie sich vom Parlament genehmigen lassen, also von jenen Abgeordneten, die die Steuerzahler repräsentieren.

Wer hingegen Steuern erhebt, ohne den Bürgern Mitspracherechte einzuräumen, erntet Sturm. Die Amerikanische Revolution, die in Boston begann, zwang letztlich das britische Weltreich zum Rückzug.

Roland Bäge

Henrik Müller ist Professor für wirtschaftspolitischen Journalismus an der Technischen Universität Dortmund. Zuvor arbeitete der promovierte Volkswirt als Vizechefredakteur des manager magazin. Außerdem ist Müller Autor zahlreicher Bücher zu wirtschafts- und währungspolitischen Themen. Für SPIEGEL ONLINE gibt er jede Woche einen pointierten Ausblick auf die wichtigsten Wirtschaftsereignisse der Woche.

Szenenwechsel. Kommenden Freitag treffen sich die Staats- und Regierungschefs der 27 verbliebenen EU-Staaten, um über die künftigen europäischen Finanzen zu beraten. Der Austritt des Nettozahlers Großbritannien wird eine gehörige Lücke ins Budget reißen. Dazu kommen diverse Aufgaben, die die EU zusätzlich übernehmen soll: Grenzsicherung, Verteidigung, Euro-Stabilisierung, Jugendarbeitslosigkeit bekämpfen und einiges mehr. All das kostet.

Woher soll das Geld kommen? Die EU-Kommission hat sich dazu einige Gedanken gemacht und vorige Woche vorgestellt, gewissermaßen zur Einstimmung für die Gipfelteilnehmer.

Das dürre Papier hat es in sich. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und seine Leute möchten der EU eigene Steuereinnahmen verschaffen. Bislang fußt das Gemeinschaftsbudget auf Zuweisungen der Mitgliedstaaten. Jetzt soll Geld aus eigenen Steuerquellen sprudeln. Damit rückt die EU näher an eine eigene europäische Staatlichkeit heran. Das wirft einige grundlegende Fragen auf:

Ist Europa auf einen solchen Schritt vorbereitet? Ist das der Stoff, mit dem Revolutionen beginnen?

Hunderte Milliarden Euro zusätzlich

Zunächst: Prinzipiell hat die EU-Kommission völlig recht. Die EU und insbesondere die Eurozone brauchen mehr Geld. Das EU-Budget ist mit gut einem Prozent des gemeinsamen BIP lächerlich klein; die Eurozone hat, anders als alle anderen Währungsräume, gar kein eigenes Budget. Wenn kleinere staatliche Einheiten allein angesichts immer großflächigerer Probleme – von Finanz- und Flüchtlingskrisen bis zum Klimawandel – nur noch unzureichend handlungsfähig sind, braucht es auch ein finanziell kräftigeres Europa.

Auch die vorgeschlagenen Einnahmequellen sind keineswegs abwegig. Künftig, so stellt die Kommission sich das vor, sollen Teile der Mehrwert- und der Unternehmenssteuern nach einheitlichen Prinzipien an die EU fließen, außerdem Teile des Gewinns der Europäischen Zentralbank (EZB) und der Einnahmen aus dem Handel mit Treibhausgaszertifikaten.

Aus diesen Quellen könnten, je nach Kalkulation, Einnahmen zwischen 143,5 und 441 Milliarden Euro sprudeln. Das klingt viel, relativiert sich aber, wenn man bedenkt, dass es nicht um ein einziges Haushaltsjahr, sondern um einen Zeitraum von sieben Jahren geht, nämlich die Jahre 2021 bis 2028. Dass durch das Ausscheiden Großbritanniens Nettoeinnahmen von mehr als 50 Milliarden Euro fehlen. Und dass Europa ja auch noch einiges mehr tun soll als bisher – beispielsweise sich nach außen rüsten in Zeiten, da die USA an ihrer Beistandsgarantie Zweifel aufkommen lassen.

Wo also ist das Problem? Es liegt weniger in der Höhe der Ausgaben oder der Struktur der Einnahmen als in der Repräsentation der europäischen Bürger.

Ein radikaler Vorschlag für die EU-Finanzen

Mein Kollege Wolfram Richter von der TU Dortmund und ich haben im vorigen Jahr einen ziemlich radikalen Vorschlag gemacht. Die EU sollte echte eigene Einnahmen in beträchtlicher Größenordnung erhalten.

Unserer Vorstellung nach sollte ein neues duales Einkommensteuersystem eingeführt werden. Dabei fließen die Einnahmen aus Steuern auf persönliche Einkommen nach wie vor den einzelnen Mitgliedstaaten zu. Die Besteuerung von Unternehmensgewinnen und anderen Kapitalerträgen jedoch würde europaweit vereinheitlicht; die Einnahmen flössen exklusiv der europäischen Ebene zu. Was die EU-Kommission jetzt vorschlägt, bleibt dahinter zurück: Ihr geht es lediglich darum, die Bemessungsgrundlage der Unternehmenssteuern zu vereinheitlichen, also der Regeln, nach denen der steuerpflichtige Gewinn ermittelt wird. Von diesen Einnahmen würde dann ein Teil der EU zufließen.

Die entscheidende Frage jedoch ist, wer über die Ausgestaltung der EU-Einnahmen und der EU-Ausgaben entscheidet. Dies berührt, wie gesagt, den Kern unserer Vorstellungen von Demokratie – siehe die Boston Tea Party von 1773.

Wenn der EU künftig Einnahmen aus echten eigenen Quellen zufließen, dann muss nach gängigem Demokratieverständnis die Hoheit über Einnahmen und Ausgaben bei einem Parlament liegen, das ein europäisches Volk hinreichend gleichmäßig repräsentiert. Bislang ist das nicht der Fall. Ein Abgeordneter aus einem großen Mitgliedstaat wie Deutschland oder Frankreich repräsentiert viel mehr Bürger als ein Kollege aus einem kleinen Land wie Malta oder Luxemburg.

Natürlich ist eine echte europäische Volksvertretung vorstellbar. In einem solchen Parlament säßen Abgeordnete, die über grenzüberschreitende Listen gewählt werden. Damit entfällt das Problem der sehr unterschiedlich großen Mitgliedstaaten. Sämtliche EU-Länder haben ja bereits im Rat Sitz und Stimme. Warum auch im Parlament? Das Ziel wäre ein echtes Zwei-Kammer-System. Es sähe ähnlich aus wie das bundesrepublikanische Modell – mit Parlament (Bundestag beziehungsweise Europäisches Parlament) und Ländervertretung (Bundesrat beziehungsweise Rat der EU).

Unter diesen Bedingungen ließe sich auf europäischer Ebene das Demokratieprinzip wahren. Entsprechend könnte die EU entschlossen ausgebaut werden – mit mehr eigenen Aufgaben, Ausgaben und Einnahmen. Das europäische Volk und seine gewählten Abgeordneten würden in voller Souveränität über ihre gemeinsamen Angelegenheiten entscheiden. Und sie hätten die dafür notwendigen Mittel zur Hand.

Warum gehen wir nicht einfach diesen Schritt? Warum schaffen wir nicht die „Vereinigten Staaten von Europa“, von denen Ex-SPD-Chef Martin Schulz noch vor wenigen Wochen schwärmte und im schwarz-roten Koalitionsvertrag einige Schritte in diese Richtung festschreiben ließ?

Der Grund ist ebenso simpel wie fundamental: Wir Europäer sind kein Volk. Jedenfalls noch nicht.

Was die Nationen bewegt

Damit eine echte Demokratie funktioniert, bedarf es eines Gefühls der Zusammengehörigkeit. Es braucht, vor allem, Kommunikationsräume, in denen wir das Politische miteinander verhandeln. Innerhalb Deutschlands tun wir das durch Massenmedien – wie „Tagesschau“ und „Tagesthemen“, „Heute“ und „Heute Journal“, die Polittalkshows, „Bild“, SPIEGEL und Spiegel ONLINE, „Zeit“, „Süddeutsche“, „FAZ“ und diverse andere.

Auch wenn soziale Medien inzwischen das Spektrum auffächern, so kristallisiert sich doch immer noch in den klassischen Massenmedien das, was eine Nation bewegt: was wichtig und was problematisch ist und wie sich die Lage verbessern lässt.

Politik wird nicht nur im Parlament verhandelt, sondern auch in der Öffentlichkeit. Was auf nationaler Ebene selbstverständlich ist, gibt es – bislang – nicht auf europäischer Ebene. Ein Zustand, der die europäische Demokratie unterminiert: Wir führen nationale Debatten über transnationale Probleme.

In einer gerade erschienenen Studie mit dem Brüsseler Thinktank Bruegel haben wir diesen Effekt exemplarisch nachgewiesen: In führenden Medien der vier größten Mitgliedstaaten der Eurozone finden wir auseinanderdriftende Narrative über die Eurokrise. Franzosen und Deutsche, Italiener und Spanier deuten die Ursachen der Krise jeweils ganz unterschiedlich. Es ist deshalb kaum verwunderlich, dass es uns so schwerfällt, gemeinsame tragfähige Lösungen für die Eurozone insgesamt zu formulieren.

Demokratie beginnt damit, dass man miteinander redet und einander zuhört. Damit tun wir uns – im Zeitalter von Populismus, Polarisierung und Turbo-Demokratismus schon auf nationaler Ebene nicht leicht. Auf europäischer Ebene sind wir davon bislang sehr weit entfernt.

Nur über Geld zu reden – über Einnahmen und Ausgaben der EU – reicht deshalb nicht aus. Letztlich geht es darum, eine europäische Demokratie zu schaffen. Mit allem was dazu gehört.

Die wichtigsten Wirtschaftstermine der Woche

Brüssel – Euro-Weichenstellungen – Die Finanzminister der Eurogruppe sollen sich auf einen neuen Vizepräsidenten für die Europäische Zentralbank (EZB) einigen. Der Portugiese Vitor Constâncio scheidet turnusmäßig aus. Als Nachfolger bewerben sich der spanische Finanzminister de Guindos und der irische Zentralbankchef Lane.

Stuttgart – Rüstungskontrolle – Der ADAC und das baden-württembergische Verkehrsministerium haben getestet, welche Auswirkungen eine Umrüstung der Hardware von Dieselfahrzeugen hätte. Nun berichten sie von den Ergebnissen. Berichtssaison I – Geschäftszahlen von Deutsche Börse, HeidelbergCement, Pfeiffer Vacuum.

Washington – Börsenschocker! – Die US-Notenbank Fed veröffentlicht die Protokolle ihrer letzten Sitzung. Nach den zuletzt stärker sichtbaren Inflationsvorboten achten hypernervöse Börsianer nun auf jeden Hinweis, ob die Fed womöglich schneller als bislang erwartet die Zinsen anhebt. Berichtssaison II – Geschäftszahlen von Hochtief, MTU Aero Engines, Telefonica Deutschland, Daimler Trucks, Orange, Glencore.

Donnerstag

München – Super-Aufschwung I – Neue Zahlen vom Ifo-Geschäftsklimaindex. Während das politische Berlin paralysiert dem SPD-Mitgliederentscheid über die nächste GroKo entgegenfiebert, überhitzt die deutsche Wirtschaft.Leipzig – Diesel raus? – Das Bundesverwaltungsgericht entscheidet über mögliche Dieselfahrverbote in deutschen Städten. Marrakesch – Schwarzes Gold – Erstes Investitionsforum der Golfstaaten mit Vertretern afrikanischer Länder. Berichtssaison III – Geschäftszahlen von Deutsche Telekom, Henkel, ProSiebenSat.1, Axa.

Brüssel – Nach dem Brexit die Zukunft – EU-Sondergipfel zum künftigen Finanzrahmen bis 2028. Wiesbaden – Super-Aufschwung II – Das Statistische Bundesamt legt detaillierte Zahlen zum deutschen Bruttoinlandsprodukt (BIP) im vierten Quartal 2017 vor. Berichtssaison IV – Geschäftszahlen von Swiss Re, International Airlines Group (IAG), Pearson, Royal Bank of Scotland (RBS).

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