Russland und der Fall Skripal „Der Westen lügt die ganze Zeit“

Für Großbritannien steht fest: Russland ist für die Giftattacke auf den Ex-Spion Skripal verantwortlich – doch in Moskau zweifeln viele daran. Im Staatsfernsehen läuft die Propaganda auf Hochtouren.

Getty Images
Wladimir Putin (Archivbild)

Freitag, 16.03.2018  
16:01 Uhr

„Was wollen die Briten von uns? Die sollen uns in Ruhe lassen!“ Eine ältere Frau, rosafarbene Mütze, dicker brauner Mantel, will nicht stehen bleiben, als sie hört, um was es geht: den ehemaligen Doppelagenten Sergej Skripal, der für die Russen und Briten spionierte und nun nach einem Giftanschlag in Großbritannien im Krankenhaus liegt. „Das Verbrechen wurde bei ihnen begangen, nicht bei uns, sie sollen es dort untersuchen“, sagt die Frau und geht weiter.

Großbritannien glaubt, dass Russland hinter der Attacke steckt. Außenminister Boris Johnson beschuldigte sogar Präsident Wladimir Putin persönlich, was der Kreml als „unverzeihlich und schockierend“ zurückwies. Großbritannien hat mehrere Sanktionen gegen Russland verhängt, unter anderem werden 23 Moskauer Diplomaten des Landes verwiesen. 58 sollen sich bisher im Land befunden haben, schreibt die „Rossijskaja Gazeta“.

Detaillierte Beweise hat die britische Regierung bisher nicht öffentlich vorgelegt. Sie stützt sich in ihren Aussagen vor allem auf eine Indizienkette, die eine Beteiligung Moskaus „höchstwahrscheinlich“ macht: Der russische Ex-Militärgeheimdienst-Oberst Skripal, der Namen von Spionen seiner Heimat an den Westen verriet, wurde mit einem Nervengift aus der Serie Nowitschok vergiftet, angeblich soll es sich in dem Koffer der Tochter befunden haben, die ebenfalls bewusstlos aufgefunden wurde. Der Kampfstoff wurde in den Siebziger- und Achtzigerjahren in der Sowjetunion hergestellt – lesen Sie hier die Hintergründe.

SPIEGEL ONLINE
Olga Perschina

Auf dem Neuen Arbat, der Fußgängerzone im Zentrum von Moskau, ist Olga Perschina, 52 Jahre, skeptisch. „Dieser Mann wurde in Moskau wegen Verrats verurteilt und später ausgetauscht gegen russische Spione. Warum haben sie ihn nicht damals ermordet, wenn er so wichtig war, warum gerade jetzt? Wo ist da die Logik?“, fragt sie.

Perschina sagt, sie schaue kein staatliches Fernsehen, sie lese „liberale“ Medien im Internet. Die Machtdemonstrationen des Präsidenten Wladimir Putin, etwa die Waffenschau bei seiner Rede an die Nation, die Annexion der Krim, das alles gefalle ihr nicht. Aber der Skripal-Fall, was bringe der Putin? „Das ist doch alles seltsam. Ich glaube eher, dass die russische Führung unschuldig ist.“ Sie macht eine Pause. „Oder aber sie ist komplett wahnsinnig geworden.“

Sergej Lawrow

Noch ist nicht klar, wie genau Russland auf die von Großbritannien verhängten Strafmaßnahmen reagieren wird – Außenminister Sergej Lawrow kündigte am Freitag bereits das zweite Mal an, dass Moskau antworten werde. Wann, sagte er aber nicht.

„Jeder kann ihn vergiftet haben – sogar die Amerikaner“

„Adäquat“ müsse die Reaktion Russlands ausfallen, fordert Nikolaj, 70 Jahre, Lederjacke, Aktentasche, Leser des Kreml-nahen Massenblatts „Komsomolskaja Prawda“, wie er sagt. „Wir sind nicht mehr das Land, das sich das Gesicht abwischt, wenn es bespuckt wird.“ Es müssten genauso viele britische Diplomaten des Landes verwiesen werden, wie russische gehen müssen. „Das ist doch alles eine Provokation. Wir sind nicht Schuld. Wozu sollten wir jemanden jetzt vor den Wahlen ermorden und es uns mit der Weltgemeinschaft verderben?“

Das findet auch Wadim Potylitsyn, 31 Jahre alt: „Jeder kann ihn vergiftet haben – sogar die Amerikaner – um vor der Wahl zu sagen, seht her, so schlecht ist Putin, lasst ihn uns stürzen.“ Er glaubt, dass Komplizen von Skripal für den Anschlag verantwortlich sind. Nikolaj meint, dass es um Geld geht. „In England sitzen so viele russische Oligarchen mit ihrem Geld. Ihnen soll das Geld und ihr Besitz dort genommen werden.“

Oppositionelle wie Alexej Nawalny hatten bereits von der britischen Regierung gefordert, dass dieses Vermögen eingefroren werden müsse, wenn wirkliche Sanktionen verhängt werden sollen. Im westlichen Ausland liegen Milliarden von Euro von russischen Geschäftsleuten und Staatsoberen.

Vergleich mit Blair

Dieses Thema aber wird nicht in den Staatsmedien behandelt. Stattdessen gab es in den vergangenen Tagen ausführliche Berichte über die Kampagne des Westens gegen Russland. Das staatliche Fernsehen dominiert die Medienlandschaft, es ist das wichtigste Propaganda-Instrument des Kreml. Knapp 70 Prozent der Russen schauen regelmäßig fern.

Nachrichten bei Rossija 1, die Sprecherin fragt: „Warum spielt Großbritannien den Skripal-Fall so hoch? Es gibt doch keine Details, die eine Beteiligung Russlands beweisen.“

Es wird nach London geschaltet, Bilder aus dem Parlament gezeigt, es redet Jeremy Corbyn. Eine Stimme aus dem Off sagt, der Labour-Parteichef habe Premierministerin Theresa May aufgefordert, darzulegen, was genau unternommen wurde, um die Schuld Moskaus zu beweisen. „Kampflustige Parlamentarier haben versucht, ihn zum Schweigen zu bringen.“ Eingeblendet werden Bilder johlender Abgeordneter. Weiter aus dem Off: „Aber er hat sich nicht verbiegen lassen“, denn er wisse sehr genau, was sein Labour-Kollege und ehemaliger Premier Tony Blair in demselben Saal vor 15 Jahren erzählt habe. Blair wird gezeigt. Er hatte im Parlament erklärt, Großbritannien müsse gegen den irakischen Diktator Saddam Hussein in den Krieg ziehen, weil dieser Massenvernichtungswaffen besitze. Bis heute wurden diese nicht gefunden.

„Der Westen lügt die ganze Zeit“

Der Sprecher des russischen Fernsehkanals sagt dazu: „Seine Lügen (von Blair – Anm. d. Redaktion) haben damals nicht nur den Glauben an die Worte britischer Institutionen ruiniert, sondern auch zu einer Tragödie geführt, von der sich die Welt bis heute nicht erholen konnte.“

Senderwechsel, Talkshow auf dem Ersten Kanal, „Die Zeit wird es zeigen“. Moderator Anton Scheinin erklärt lapidar: „Jeder, der eine Formel der Substanz und einen Kasten ‚Der junge Chemiker‘ zu Hause hat, die es in der sowjetischen Zeit gab, kann diese Substanz zu Hause zusammengestellt haben.“

Zurück auf Rossija 1. „60 Minuten“ heißt hier die politische Talkshow. In der Debatte geht es laut zu. Margarita Simonjan ist Chefredakteurin von RT, ehemals Russia Today. Sie kümmert sich darum, dass die russische Sichtweise in der Welt verbreitet wird.

„Der Westen lügt die ganze Zeit“, ruft sie und wendet sich an einen russischen Politologen, der nicht die offizielle Sichtweise des Kremls vertritt. „Sie führen Beweise von Leuten an (gemeint ist der Westen – Anm. d. Redaktion), die immer lügen. Bezahlen sie Ihnen Geld oder lieben Sie ihre Heimat nicht?“

Die Moderatorin Olga Skobejewa liest die Liste der britischen Sanktionen vor, die an der Wand mit der britischen Fahne und dem Big Ben eingeblendet sind. Keine offiziellen Vertreter Großbritanniens werden zur Fußball-WM nach Russland fahren, steht da. Das schließt auch die königliche Familie ein. Jetzt müsse die Queen ihre Mannschaft vor dem Fernseher anfeuern, sagt die Moderatorin. Es ist als Spott gemeint.

Quelle