Türkei Erdogans gefährlicher Wirtschaftskurs

Die türkische Regierung hat die Wirtschaft des Landes mit billigem Geld aufgepumpt, es droht eine Schuldenkrise. Hat Präsident Erdogan die Wahlen vorverlegt, um seine Macht vor dem großen Knall abzusichern?

Wahlwerbung für Recep Tayyip Erdogan in Istanbul

Sonntag, 17.06.2018  
14:51 Uhr

Ach, wer braucht schon noch die Demokratie? Gibt der Westen nicht ein jämmerliches Bild ab? In Amerika wütet Donald Trump, die G7 scheinen am Ende, die EU ist von Zerfall bedroht, Großbritannien gelähmt, sogar Deutschland droht eine Regierungskrise (achten Sie diese Woche auf den Fortgang des CDU/CSU-Streits um die Zuwanderungspolitik) – überall Getöse, Wut, Zerstörung.

Während sich der Westen selbst zerlegt, präsentieren sich auf der anderen Seite Autokraten glänzend: Ordnung, Stärke, Wohlstand. Was stören mag, findet in den schönen Bildern des Staatsfernsehens nicht statt. Medien, Opposition und Justiz sind unter Kontrolle. Wie gesagt: Wer braucht schon noch die Demokratie?

Das wichtigste Argument, das die Nicht-Demokraten in aller Welt in den vergangenen zehn Jahren für sich ins Feld führen konnten, war ihr wirtschaftlicher Erfolg. Die großen illiberalen Schwellenländer wurden zu Motoren der Weltwirtschaft, als der Westen nach der Finanzkrise 2008 jahrelang darniederlag. China, Russland, die Türkei – es ging aufwärts, scheinbar ungebremst, auf jeden Fall auftrumpfend.

Die alte Gleichung, wonach ohne Freiheit auf Dauer kein Wohlstand zu erreichen sei – und umgekehrt -, schien nicht mehr zu gelten. Während große Teile des Westens in zügelloser Schuldenwirtschaft und Zockerei zu versinken schienen, beeindruckten viele Autokratien mit Aufbruch und Dynamik.

Doch inzwischen zeigt sich: Sie sind keinen Deut besser. Die nächste Schuldenkrise steht bevor.

Der Fall China: einsamer Rekord bei der Verschuldung

Es gibt zwei besonders krasse Fälle: Der eine ist China, der andere die Türkei, wo sich am kommenden Sonntag Präsident Recep Tayyip Erdoan zum Quasi-Alleinherrscher der Türkei wählen lassen will.

Es sieht so aus, als ob sich die jüngste Wirtschaftsgeschichte wiederhole. Die Wirtschaft verschuldet sich, bis es knallt. Dann muss der Staat einspringen. Mit ungewissem Ausgang. So war es in vielen westlichen Ländern in den Nullerjahren. Nun droht vielen Schwellenländern ein ähnliches Debakel.

In China sind die Verbindlichkeiten der Unternehmen seit 2008 um zwei Drittel gestiegen. In keinem Land der Erde ist die Wirtschaft so hoch verschuldet: mit einer Gesamtsumme von sagenhaften 18,9 Billionen Dollar. Das entspricht mehr als 160 Prozent der Wirtschaftsleistung, wie das McKinsey Global Institute (MGI), der Thinktank der gleichnamigen Unternehmensberatung, in einer aktuellen Studie vorrechnet. (Zum Vergleich: In Deutschland liegen die Firmenschulden bei 54 Prozent der Wirtschaftsleistung.)

Aber China hat große Währungsreserven und einen außenwirtschaftlichen Überschuss. Die Regierung lässt inzwischen mehr und mehr Unternehmen Pleite gehen. Ein Balanceakt, denn diese Form des Schuldenabbaus wird nicht nur den Finanzsektor unter Stress setzen, sondern auch das Wachstum in den kommenden Jahren weiter bremsen. Rapide Wohlstandszuwächse gehören der Vergangenheit an.

Der Fall Türkei: das Misstrauen der Welt

In der Türkei ist die Lage ungleich schwieriger. Auch dort sind die Schulden der Unternehmen stark gestiegen, auf mehr als eine halbe Billion Dollar, oder knapp 70 Prozent der Wirtschaftsleistung. Aber Erdogans Türkei lebt von im Ausland gepumptem Geld. Es ist auf kurzfristige Kapitalzufuhr angewiesen. Bleibt die aus, drohen reihenweise Pleiten.

Wie fragil die Lage ist, hat sich in den vergangenen Monaten gezeigt. Der Verfall der türkischen Lira ist ein Zeichen des Misstrauens, das internationale Kapitalgeber inzwischen dem wirtschaftspolitischen Kurs Erdogans entgegenbringen.

Das war nicht immer so. Über viele Jahre seiner Regierungsführung war Erdogan überaus erfolgreich. Die Wohlstandszuwächse, die seine Politik dem Land im vorigen Jahrzehnt beschert hat, waren beeindruckend. Doch in den vergangenen Jahren hat seine Regierung die Wirtschaft immer weiter aufgepumpt: mit billigem Geld. Die Notenbank hält die Zinsen niedrig, die Banken wurden zur Kreditvergabe geradezu ermuntert. Seit dem Putschversuch von 2016 hat die Regierung auch die Staatsausgaben ausgeweitet.

Die Folge ist ein konjunkturelles Strohfeuer: Die Wirtschaftwächst rasch. Die Inflation ist hoch (11 Prozent). Und die Schulden steigen weiter. Nachhaltig ist das nicht.

Eine explosive Mischung: Abwertung und steigende Zinsen

Die Türkei gerät in die Klemme: Kein vergleichbares Schwellenland hat so hohe Auslandsschulden; nach Berechnungen der OECD liegen sie bei rund 50 Prozent der Wirtschaftsleistung. Und sie lauten zu einem großen Teil nicht auf türkische Lira, sondern auf Euro und Dollar. Das war günstig, solange die Zinsen im Westen extrem niedrig waren. Aber jetzt hat eine Trendwende begonnen, getrieben vor allem von den Zinserhöhungen in den USA und dem bevorstehenden Ende der Kriseninterventionen durch die Europäische Zentralbank (EZB).

Eine explosive Mischung: Die Türkei muss ihre Schuldenberge mit einer schwächeren Lira und steigenden Zinsen finanzieren. Es riecht geradezu nach einer bevorstehenden Schuldenkrise. Offenbar hat Erdogan genau deshalb die Wahlen vorverlegt: um seine Macht noch vor dem großen Knall zu sichern, wie auch der SPIEGEL-Report im aktuellen Heft nahelegt.

Ein massiver Schock: auch für den Westen

Der Türkei ist ein Extrem-, aber kein Einzelfall. In vielen Schwellenländern sind die Unternehmensschulden in den vergangenen Jahren dramatisch gestiegen. Besonders stark in China, aber auch anderswo: in demokratisch verfassten Staaten wie Chile genauso wie in diktatorischen wie Vietnam. Bis zu einem Viertel aller ausstehenden Unternehmensanleihen in den Schwellenländern könnten womöglich nicht zurückgezahlt werden, prophezeit die MGI-Studie. Das wäre ein massiver Schock, der auch das westliche Finanzsystem empfindlich treffen würde.

Gier, schlechte Regulierung und laxe Geldpolitik sind keine Privilegien freiheitlicher Gesellschaften. Auch autoritär regierte Länder sind dafür empfänglich. Sie sind sogar strukturell dafür noch anfälliger: Führungsfiguren, die sich unbedingt an der Macht halten wollen, setzen expansive wirtschaftspolitische Maßnahmen als Herrschaftsinstrument ein. So war es in China, wo die Pekinger KP-Bosse während der Rezession von 2009 einen kreditgetriebenen Boom entfesselten, unter dessen Folgen die Wirtschaft heute leidet. Ähnlich war es in der Türkei, wo Präsident Erdogan ab 2009 und dann noch mal nach dem Putschversuch vom Sommer 2016 kräftig aufs Gas trat. In beiden Ländern sind die Staatsschulden relativ niedrig. Aber das kann sich in einer Schuldenkrise rasch ändern.

Letztlich ist es nicht die angebliche Weisheit starker Führungsfiguren, die eine stabile Wirtschaftsentwicklung ermöglicht, sondern starke Institutionen. In den USA kann Trump wüten, aber die Notenbank ist unabhängig – und steuert derzeit einen vorsichtigen Gegenkurs. Die Eurozone gibt es immer noch, trotz des allseitigen Versagens auf politischer Ebene – weil die unabhängige EZB beherzt eingreifen konnte.

In der Türkei hingegen macht Erdogan der Notenbank das Leben schwer. Er beharrt auf niedrigen Zinsen, seiner Privattheorie folgend, wonach hohe Zinsen hohe Inflationsraten begünstigen. Kein Fachmann teilt diese Haltung. Aber der Präsident hat schon heute die Macht, der Notenbank seinen Stempel aufzudrücken und sie daran zu hindern, dringend nötige Zinserhöhungen durchzuziehen. Nach der Wahl will er noch mehr Einfluss auf die Geldpolitik – eine Ankündigung, die den jüngsten türkischen Währungscrash auslöste.

Wir sind nicht immun, leider

Autokratische Systeme mögen in den frühen Stufen der Wirtschaftsentwicklung ziemlich erfolgreich sein: wenn es darum geht, Fabriken, Straßen und Städte zu bauen. Das konnte einst auch die Sowjetunion ganz gut. Dauerhafte Stabilität hingegen erfordert Rechtsstaatlichkeit und die Checks and Balances einer offenen Demokratie.

Leider ist auch der Westen nicht immun gegen die Strahlkraft der starken Männer. Trump ist nur ihr prominentestes Beispiel. Illiberale Tendenzen gibt es inzwischen überall in Europa, nicht nur in Ungarn, Polen oder Italien. Die freiheitliche Ordnung sei in ihrer „tiefsten Krise seit Jahrzehnten“, warnt der US-Thinktank Freedom House. Faire Wahlen, Minderheitenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit – solche Selbstverständlichkeiten seien vielerorts nicht mehr selbstverständlich: 71 Länder haben den Analysen zufolge voriges Jahr eine Verschlechterung der politischen und bürgerlichen Rechte erlitten.

Eine schlechte Nachricht – für die Freiheit, aber auch für die Wirtschaft.

Die wichtigsten Wirtschaftsereignisse der Woche

Sintra – Die EZB erklärt sich – Alljährliches Notenbankertreffen in Portugal: Draghi und seine Gäste erläutern ihre Sicht auf die Welt des Geldes.Karlsruhe – Immer wieder Oppenheim – Der Bundesgerichtshof verhandelt über eine Revision des Urteils gegen den Kölner Unternehmer Josef Esch wegen seiner Rolle bei der Pleite des Bankhauses Sa. Oppenheim.

Berlin – Hurra, Europa! – Deutsch-französischer Ministerrat: Präsident Macron und Kanzlerin Merkel treffen sich samt Kabinetten, um den EU-Gipfel in der kommenden Woche vorzubereiten. Hauptthemen: Ausbau der Eurozone, Brexit (insbesondere Zukunft der Grenze zwischen Irland und Nordirland), gemeinsame Asylpolitik.

Washington – Munition für Trump – Neue Zahlen zum Leistungsbilanzdefizit der USA. Fachleute erwarten eine weitere Verschlechterung.

Donnerstag

London – Volles Pfund – Die Bank of England entscheidet über die weitere Geldpolitik. Während die USA und allmählich auch die Eurozone allmählich die Zügel straffer ziehen, muss die Londoner Notenbank auf den schwachen Wechselkurs und die heimische Inflation achten – was für eine vorsichtige Zinserhöhung spricht.

Brüssel – Euro-Konjunktur – Neue Zahlen zur Stimmung bei den Einkaufsmanagern der Unternehmen. Gehen die Werte weiter zurück?

Ankara – Wahlen in Zeiten des Crashs – Während die türkische Lira fällt und die Zinsen steigen, stehen vorgezogene Präsidenten- und Parlamentswahlen an. Eine Mehrheit für Erdogan ist keineswegs sicher. Eine Stichwahl findet gegebenenfalls am 8. Juli statt. Mit der Wahl soll die Verfassungsreform zur Einführung eines Präsidialsystems abgeschlossen werden. Der Job des Regierungschefs wird künftig gleich vom Staatschef miterledigt.

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