Macrons Endspurt vor der Europawahl Der nervöse Präsident

Emmanuel Macron hat diese Europawahlen zu den wichtigsten seit 1979 erklärt – und die Rechten liegen knapp vorn. Der Druck auf Frankreichs Präsident ist enorm. Entsprechend aggressiv wird der Ton.

Ludovic MARIN/AFP
Emmanuel Macron

Dienstag, 21.05.2019  
17:18 Uhr

Europawahl 2019

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Ein Bürogebäude nahe der Pariser Oper, ein Klingelschild mit nur drei Buchstaben: QGE. Es steht für Quartier Général en Marche, Hauptquartier en Marche – dahinter verbirgt sich das Europawahlkampfbüro der Regierungspartei. Schon vor Monaten hat „La République en Marche“ die oberen drei Stockwerke dieses Hauses angemietet, gesichtslose Büros mit graumeliertem Teppich und abgehängten Decken aus weißen Isolierplatten.

Hundert freiwillige Wahlkampfhelfer und 30 Festangestellte arbeiten hier, jeder Raum ist bis in die letzte Ecke vollgestellt mit Schreibtischen, ab und an steht ein Sofa dazwischen. Am Empfang hängt ein großes Plakat, eine Einladung zur „Change Europe Party“: „Macht Europa zu einer grünen Macht“, steht darauf.

Es ist ein wenig wie im Frühjahr 2017, als der Präsidentschaftskandidat Emmanuel Macron mit seiner Bewegung die politischen Gewissheiten der Fünften Republik abräumte, unterstützt von einem jungen Wahlkampfteam, das rund um die Uhr für ihn arbeitete. Damals standen noch Stockbetten auf den angemieteten Büroetagen, die gibt es diesmal nicht. Damals gewann Macron im zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen mit 65 Prozent klar gegen die Rechtspopulistin Marine Le Pen, auch das wird es dieses Mal nicht geben.

Sechs Tage vor den Europawahlen liegt Le Pens Partei „Rassemblement National“ zum ersten Mal in mehreren Umfragen mit fast 24 Prozent aller Stimmen knapp vor der Regierungspartei, die auf 22,3 Prozent kommt. In den Wochen zuvor trennten beide nur wenige Prozentpunkte voneinander. Es wird sehr knapp werden am kommenden Sonntag, das wissen alle hier.

Macrons Wahlkampfstratege Stéphane Séjourné sitzt an diesem Vormittag in einem kleinen Büro am Ende eines langen Flures und versucht, einen tropfenden Wasserhahn abzudrehen, vergeblich. „Macht nichts“, sagt er, „tun wir so, als wäre es ein Brunnen.“

Bis vor Kurzem hatte Séjourné ein luxuriöseres Arbeitsumfeld. Seit der Präsidentschaftswahl im Mai 2017 war er einer der drei engsten Berater Macrons im Élysée. Der 32-Jährige gehört bis heute zum Inner Circle des Präsidenten, die beiden telefonieren täglich miteinander.

Charles Platiau/ REUTERS
Stéphane Séjourné

Seit Anfang des Jahres ist Séjourné Chefstratege für die Europakampagne – und seither kämpft er gegen die schlechten Umfragewerte an. „Wir wussten von Anfang an, dass es knapp wird, dass sich alles in den letzten Tagen entscheidet“, sagt er. „Und dass der ‚Rassemblement National‘ leider unser Hauptgegner sein wird.“

Das Wichtigste sei es nun, die eigenen Anhänger zu mobilisieren und ihnen klar zu machen, was auf dem Spiel stehe. „Es geht um die Zukunft Europas. Aber es ist auch das erste Mal, dass wir, ‚La République en Marche‘, uns seit Mai 2017 einer Wahl stellen. Und unsere politischen Gegner tun alles dafür, den 26. Mai zu einem Referendum gegen den Präsidenten zu erklären.“

Eine Testabstimmung über die ersten beiden Amtsjahre Macrons

Diese Europawahlen, das ist auch eine Testabstimmung über die ersten beiden Amtsjahre Macrons. Noch immer demonstrieren jeden Samstag Gelbwestenanhänger – oder solche, die sich so nennen, in Paris und anderen Städten Frankreichs. Die soziale Krise, in der sich das Land seit Monaten befindet, ist längst nicht überwunden. Und die Wut der Franzosen noch immer groß. Und wenn Wähler in diesem Land wütend sind, dann zeigen sie dies unter anderem beim ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen. Oder auch bei den Europawahlen, deren politische Konsequenzen ernstzunehmen vielen hier schwer fällt – so schwerwiegend sie auch sein mögen.

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Vor allem Le Pens Partei profitiert von der Strategie, die Wahl zur Abstimmung über die ersten beiden Jahre unter Macron zu erklären: Erschreckend viele Anhänger der Gelbwestenbewegung haben erklärt, die Rechtspopulisten wählen zu wollen. Und in der vergangenen Woche lief auch noch ein Vertreter der linken Partei „La France Insoumise“ zum „Rassemblement National“ über, weil die Rechte, wie er sagte, am ehesten in der Lage sei, Macron Einhalt zu gebieten.

Beide Seiten rüsten in diesen letzten Tagen vor der Wahl rhetorisch auf: Der ehemalige Trump-Berater und Le Pen-Unterstützer Steve Bannon, der eigens für den Endspurt der Kampagne aus Washington anreiste, ließ am Wochenende aus seiner 8000-Euro-Suite im Pariser Luxushotel Bristol verlauten, Frankreich sei der „Ground Zero“ dieser Wahlen. Hier und nirgendwo anders würde sich die Zukunft Europas entscheiden.

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Auch die „En Marche“-Spitzenkandidatin Natalie Loiseau, 54, die lange vor allem mit ungelenken Auftritten auf sich aufmerksam gemacht hatte, erklärt den Wahltag seit einiger Zeit gern martialisch zum D-Day – für oder gegen Europa. „Ich möchte nicht eine Rückkehr in die Dreißigerjahre erleben“, sagte sie in einem Interview mit „Le Monde“ vergangene Woche.

Seit Wochen schon tritt Loiseau, die einst die Eliteschule Ena leitete und bis vor Kurzem Ministerin für europäische Angelegenheiten war, bei Wahlkampfkundgebungen nicht mehr allein auf. Der Premierminister oder andere Regierungsmitglieder stehen nun mit ihr auf der Bühne.

Nervosität im Regierungslager

Sie alle wurden von Macron in einer, in der französischen Presse ausführlich zitierten Standpauke während des Ministerrats am 30. April dazu verpflichtet, mehrere Termine pro Woche für den Wahlkampf freizuräumen. Es gehe jetzt um alles oder nichts, soll Macron gesagt haben, das müsse doch allen klar sein. Er erwarte mehr Einsatz von jedem einzelnen. Laut den französischen Zeitungen sollen mehrere Minister während Macrons Ansprache sehr konzentriert ihre Schuhe angeschaut haben.

Die Nervosität im Regierungslager ist verständlich: Ein zweiter Platz hinter Marine Le Pens „Rassemblement“ am kommenden Sonntag wäre für Macron ein katastrophales Szenario. Der französische Präsident braucht nach den monatelangen Auseinandersetzungen mit der Gelbwestenbewegung dringend Erfolge und neue Handlungsspielräume für die verbleibenden drei Amtsjahre.

CHRISTOPHE PETIT TESSON/EPA-EFE/REX
Wahlplakate in Paris

„En Marche“ setzt neben der Mobilisierung der eigenen Anhänger daher vor allem darauf, bei jungen, umweltbewussten Mitte-links-Wählern Stimmen zu generieren.

Die Regierungspartei hat den Schutz der Umwelt und den Kampf gegen den Klimawandel im Wahlkampf zur Priorität erklärt. Eine Billion Euro will sie bis 2024 in den ökologischen Umbau investieren. „Und unsere Kandidatenliste ist so grün wie möglich“, sagt Séjourné. Auf Platz zwei steht der ehemalige Frankreichdirektor des World Wildlife Funds (WWF) und Ex-Grüne Pascal Canfin, einst ein Zögling von Daniel Cohn-Bendit.

Die Angriffe auf den politischen Gegner nehmen zu

Ex-Präsidentenberater Stéphane Séjourné nimmt Platz sechs der Europaliste ein. Weil er irgendwann aus dem Schatten heraustreten und als Handelnder Politik gestalten will, sagt er – und wenn nicht jetzt, wann dann?

Auch sein Ton hat sich in den vergangenen Tagen verschärft, die Angriffe auf den politischen Gegner nehmen zu. Seit dem Rücktritt des FPÖ-Vizekanzlers Heinz-Christian Strache in Österreich hat „En Marche“ sich entschieden, die Partei Le Pens als Marionette Putins oder Trumps zu diskreditieren.

„Die extreme französische Rechte hat sich an die amerikanischen Rechten und an Russland verkauft“, sagte Séjourné Anfang der Woche. Sowohl die Präsenz Bannons in Paris als auch der Strache-Skandal in Österreich würden belegen, dass der Einfluss ausländischer Mächte auf diese Wahlen keine bloße Phantasie sei.

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