Boom der privaten Raumfahrt Hochbetrieb an der „Space Coast“

Floridas „Space Coast“ galt als Friedhof von Amerikas Weltraumträumen. Dank Elon Musk, Jeff Bezos und anderen reichen All-Hasardeuren erlebt das Sumpfgebiet ein erstaunliches Comeback.

Malcolm Denemark/ Florida Today/ AP/ DPA

Samstag, 20.07.2019  
14:50 Uhr

Ihre Begeisterung hat sie sich erhalten. Bis heute verfolgt Pat Christian jeden Raketenstart mit. Von ihrem Vorgarten oder vom Strand aus kann sie sehen, wie jenseits des Indian River ein greller Strahl in den Himmel steigt und dann langsam verschwindet.

„Die Fenster beben, der Hund bellt, die Katze rennt weg.“ So fühle es sich an, wenn drüben in Cape Canaveral eine Rakete gelauncht werde. Gewöhnt man sich je daran? „Niemals!“

Christian sitzt am Pier von Titusville, von wo aus man einen guten Blick auf das Spektakel hat. Drüben, auf der anderen Seite des Flusses, flimmert die Fassade des Nasa-Hangars, rechts sind Startrampen zu erkennen, auf einer wartet schon die nächste Rakete.

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Ein Leben für die Raumfahrt: Pat Christian in Titusville

Der Weltraumbahnhof an Floridas Ostküste ist plötzlich wieder aktiv, nachdem es jahrelang still um ihn geworden war. Seit die Nasa 2011 die meisten ihrer Programme eingemottet hatte, war das Gelände nach und nach verwaist – und die Region ringsum, die viele nur die „Space Coast“ nennen, rasselte in die Rezession.

Nun herrscht ausgerechnet zum 50. Jahrestag der ersten Mondlandung wieder Hochbetrieb, auch dank privater Konzerne wie SpaceX, dem Unternehmen von Tesla-Mitgründer Elon Musk, oder Blue Origin, der Firma von Amazon-Chef Jeff Bezos.

Die Gegend boomt wie früher – und auch die 68-jährige Pat Christian blüht auf. Schon als Kind wollte sie Astronomin werden, 1988 landete sie bei der Nasa, betreute Astronauten, VIP-Gäste, Reporter. Sie erlebte jeden Start mit, jede Landung und auch das „Columbia“-Unglück, nach dem sie wochenlang trauerte. Im Juli 2011 ging das letzte Space Shuttle in Rente, eine Woche später auch Christian.

Nun freut sich die Ruheständlerin über die plötzliche Raketen-Renaissance. „Wir alle sind eine große Familie“, sagt Christian über die professionellen und privaten Weltraum-Nerds im Bezirk Brevard, der neben dem berühmten Cape Canaveral gut ein Dutzend weitere Küstengemeinden umfasst.

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Aus alt mach neu: Startrampen in Cape Canaveral

Die Wiedergeburt der „Space Coast“ ist mehr als Nostalgie: Sie ist ein kleines Wirtschaftswunder.

Raumfahrt und Tourismus waren stets die wichtigsten Branchen in dieser Sumpfgegend. Eng miteinander vernetzt belebten sie die Gastronomie, den Einzelhandel, den Immobilienmarkt. Zum Höhepunkt des Apollo-Zeitalters in den Sechziger- und Siebzigerjahren war die „Space Coast“ zudem ein Party-Mekka. „Es war wie der Wilde Westen“, sagt Ben Malik, der Bürgermeister von Cocoa Beach bei Cape Canaveral.

Dann begann eine wirtschaftliche Berg- und Talfahrt: Mit dem Ende der Apollo-Missionen 1972 brach die Wirtschaft zunächst ein. Das Space-Shuttle-Programm sorgte ab 1981 für einen neuen Aufschwung. Ab 2011 drehte der US-Kongress auch diesem den Geldhahn zu.

Es schien der endgültige Todesstoß für die Region zu sein, in der Schulen und Straßen nach Astronauten benannt sind. Gleich zwei Weltraummuseen gibt es hier, man speist im Orbit Café, nächtigt im Satellite Motel, und die Telefonvorwahl klingt wie ein Countdown: 321.

Mehr als 25.000 Menschen haben durch die Raketen-Rezession ihre Jobs verloren, nicht nur bei der Nasa, auch in den Hotels, Restaurants, Läden, die von der Weltraumindustrie abhingen. Die Arbeitslosenquote stieg auf zwölf Prozent.

„Es war eine harte Zeit“, erzählt Lynda Weatherman, die Chefin der Space Coast Economic Development Commission, der wichtigsten Entwicklungsbehörde des Bezirks. „Ich bin seit 40 Jahren im Geschäft, und zum ersten Mal musste ich die Heilsarmee engagieren, weil viele Leute kein Dach mehr über dem Kopf hatten.“

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„Wie im wilden Westen“: Ben Malik, der Bürgermeister von Cocoa Beach

„Ich bin mit der Nasa aufgewachsen“, sagt Dale Ketchum, der Vizechef von Space Florida, einer staatlichen Agentur, die die Region promotet und Subventionen verteilt. „Es ist toll, wenn alles läuft, aber wenn der Hauptarbeitgeber ausfällt, tut das weh.“

Space Florida wurde 2006 gegründet, als sich das Ende der Shuttle-Ära abzeichnete. „Wir machten eine bewusste Entscheidung“, sagt Ketchum. „Wir verlassen uns nicht mehr auf die Regierung, sondern suchen auch kommerzielle Anbieter.“

Sie reisten um die Welt, um zu werben und zu lernen, sahen sich Detroit an, das mit einer neuen Tech-Branche die Autokrise überstand, erkundeten Singapur und Irland, zwei Staaten, die nach Wirtschaftskrisen wieder die Kurve kriegten.

Schließlich eilten drei Milliardäre zur Rettung: Elon Musk, Jeff Bezos und Richard Branson gaben der „Space Coast“ eine neue Chance.

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Kommerzielle Ambitionen: Space-X-Start im Mai 2019

Heute ist die Region wieder eines der betriebsamsten Raumfahrtzentren der Welt: Wohl nirgends sonst ballen sich mehr Firmen, die ins All wollen oder für solche Pläne zuliefern.

Die alte Rampe 39A, von der Apollo 11 zum Mond aufbrach und das „Challenger“-Shuttle zu seiner verhängnisvoll kurzen Reise, ist heute für Musks SpaceX reserviert.
Bezos‘ Blue Origin hat Rampe 36 übernommen.
Und die United Launch Alliance (ULA), ein Joint Venture von Boeing und Lockheed Martin, nutzt zwei Nasa-Launchkomplexe in der Nähe.
2018 starteten 20 Raketen von der Halbinsel, dieses Jahr bereits sechs. Geht es nach der Nasa und der Air Force, die auf dem Gelände das Kommando hat, sind es demnächst mindestens 48 pro Jahr.

Im „Exploration Park“, einer neuen Industriezone, baut Blue Origin in einer enormen blauen Halle seine New-Glenn-Rakete, benannt nach John Glenn, dem ersten Amerikaner im All. Boeing hat den alten Space-Shuttle-Hangar des Kennedy Space Centers angemietet, Lockheed Martin eine benachbarte Nasa-Halle.

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Galaktisch speisen: Das Orbit Café am Kennedy Space Center

Kleinere Start-ups versuchten ebenfalls vom neuen Tech-Boom zu profitieren. Es war die Geburt einer neuen „Space Coast“, die nicht nur ein Weltraumbahnhof ist, sondern auch eine Produktionsstätte für Raketen, Satelliten und Gerätschaften, die früher woanders zusammenmontiert worden waren.

Aus der alten Monokultur wurde so eine diversifizierte Industrie. Das heißt auch, dass neue Talente gefragt sind, nicht nur Raketenbastler, auch Physiker, Programmierer, Designer. „Wir konkurrieren mit dem Silicon Valley und Seattle“, sagt Ketchum von Space Florida.

Entsprechend gut geht es der Region inzwischen wieder. Die Arbeitslosenquote lag zuletzt nur noch bei 3,1 Prozent – noch unter dem US-weiten Durchschnitt von 3,4 Prozent. „Comeback-Küste“, schlagzeilte die „Washington Post“, der Branchendienst „SpaceNews“ schrieb von der „Wende des Jahres“.

Überall entstehen Wohnsiedlungen für Mitarbeiter der privaten Weltraumkonzerne, inklusive Schulen, Einkaufszentren, Luxushotels. Die Immobilienpreise ziehen an. Auch Cocoa Beach ist frisch geschrubbt, neue Kneipen machen auf.

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Guck mal: Soldaten warten auf einen Raketenstart

Der Highway 50 und die schmalen Dämme über den Indian River sind wieder stundenlang verstopft, wenn die Schaulustigen ihre Klappstühle aufbauen, um mit Ferngläsern und Teleobjektiven den nächsten Raketenstart ins Visier zu nehmen.

Und zum Jubiläum der Mondladung von 1969 schwelgt die „Space Coast“ noch einmal im alten Glamour. Es gab bereits eine Astronautenparade, ein „Apollo-Open-Air-Konzert“, Podiumsdiskussionen über „Frauen im Weltraum“ und „die Zukunft der Raumfahrt“ sowie eine Gala im Kennedy Space Center. Der Jahrestag werde „eine ganz große Sache“, sagt Malik.

Pat Christian indes wird am Sonntagabend wahrscheinlich wieder in ihrem Vorgarten stehen oder unten am Wasser. Um 19.32 Uhr soll die nächste SpaceX-Rakete starten, eine Falcon 9, mit Proviant, Geräten und Material für die Internationale Raumstation ISS.

„Es gibt nichts Besseres“, sagt sie.

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