Netanyahus Annexionspläne Die Zweistaatenlösung geht über den Jordan

Israels Premier Netanyahu will im Falle seiner Wiederwahl das Jordantal annektieren. Auch wenn das Wahlkampfgetöse ist: Früher oder später wird es so kommen – mit verheerenden Folgen für die Palästinenser.

Menahem Kahana/AFP

Mittwoch, 11.09.2019  
13:10 Uhr

Seit 52 Jahren hält Israel das Westjordanland besetzt. Seit zehn Jahren ist Benjamin Netanyahu israelischer Ministerpräsident. Doch ausgerechnet jetzt sei die „einmalige Gelegenheit“ gekommen, große Teile des Westjordanlandes dauerhaft zu annektieren, verspricht der Regierungschef. Sollte er bei den Parlamentswahlen am kommenden Dienstag im Amt bestätigt werden, werde er sämtliche israelische Siedlungen im Westjordanland annektieren – angefangen mit dem Jordantal.

„Heute verkünde ich meine Absicht, nach der Bildung einer neuen Regierung die israelische Souveränität auf das Jordantal und das nördliche Tote Meer auszuweiten“, sagte Netanyahu am Dienstag. Das geschehe „in maximaler Übereinstimmung“ mit US-Präsident Donald Trump.

In Israel macht sich kaum jemand Illusionen darüber, dass es sich um ein Wahlkampfmanöver des Premierministers handelt, der nicht nur um seine Wiederwahl bangen muss, sondern dem auch eine Anklage wegen mehrerer Korruptionsfälle droht. Gleichwohl zweifelt kaum jemand daran, dass Israel früher oder später das Jordantal und andere Teile des Westjordanlands annektieren wird, ganz egal wie die Wahl am Dienstag ausgeht.

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Straße im Jordantal: Die Mehrheit der israelischen Parteien befürwortet die Annexion

Nur das israelische Linksbündnis und die arabischen Parteien lehnen die Annexionspläne grundsätzlich ab. Sie werden bei der Knessetwahl am 17. September aber zusammen nur rund ein Fünftel der 120 Mandate erringen. Alle anderen Parteien streben ebenfalls die Annexion des Jordantals an.

Benny Gantz, als Anführer des Oppositionsbündnisses Blau-Weiß Netanyahus wichtigster Gegenspieler, warf dem Premier sogar vor, die Idee geklaut zu haben. „Blau-Weiß hat klargemacht, dass das Jordantal für immer ein Teil Israels ist“, sagte Gantz. „Wir freuen uns, dass Netanyahu den Plan von Blau-Weiß zur Anerkennung des Jordantals übernommen hat.“

Naftali Bennett, früherer Bildungsminister unter Netanyahu und Chef der Partei „Die Neue Rechte“ forderte den Premier auf, das Gesetz zur Annexion des Jordantals noch vor der Wahl in der Knesset zu verabschieden, um zu beweisen, dass es ihm ernst ist.

Strategisch ist Netanyahus Schachzug schlau

Bei seinem TV-Auftritt am Dienstag zeigte Netanyahu auf einer Karte, um welche Gebiete es zunächst geht. Das Gebiet ist rund 2400 Quadratkilometer groß und umfasst damit rund ein Drittel des Westjordanlands. Die Gegend ist relativ dünn besiedelt. Nach Schätzungen der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem leben dort rund 11.000 Israelis – zumeist in landwirtschaftlich geprägten Siedlungen – und etwa 65.000 Palästinenser.

Netanyahu behauptet, Israel werde „keinen einzigen Palästinenser annektieren“. Er verweist darauf, dass Jericho, die größte arabische Stadt im Jordantal, und fünf weitere Dörfer unter palästinensischer Kontrolle verbleiben sollen. Diese würden künftig als winzige Enklaven inmitten israelischen Gebiets liegen. Israel würde sämtliche Zufahrtswege in diese Städte und Dörfer kontrollieren, souverän wären diese palästinensischen Enklaven nicht. Die Bewegungsfreiheit der palästinensischen Bevölkerungsmehrheit bliebe massiv eingeschränkt.

Strategisch ist Netanyahus Ankündigung ein schlauer Schachzug. Eine Annexion dieses Gebiets, in dem hauptsächlich säkulare Juden leben, wäre weitaus weniger ideologisch aufgeladen als die Annexion der großen Siedlungsblöcke im Westjordanland, in denen die national-religiösen Kräfte stark sind. Über Parteigrenzen hinweg wird die Kontrolle über das Jordantal als unerlässlich für die israelische Sicherheit angesehen.

Auch der damalige Ministerpräsident Jitzhak Rabin, der in den Neunzigerjahren eine Verhandlungslösung mit den Palästinensern anstrebte, hatte immer deutlich gemacht, dass Israels „Verteidigungsgrenze“ entlang des Jordans verlaufe. Damals war im Gespräch, dass Israel mit Zustimmung eines noch zu gründenden palästinensischen Staates Soldaten im Jordantal stationieren könnte. Netanyahu handelt nun lieber einseitig und stellt die Palästinenser vor vollendete Tatsachen.

Zwar hat Israel 1994 einen Frieden mit Jordanien geschlossen, der seit 25 Jahren hält. Gleichwohl sorgen sich Politik und Sicherheitsapparat in Jerusalem um die Stabilität des östlichen Nachbarstaats. Die Furcht ist groß, dass König Abdullah II. irgendwann von Islamisten gestürzt und durch ein islamistisches, Israel-feindliches Regime abgelöst werden könnte. Aus diesem Grunde sei es unerlässlich, dass Israel das Grenzgebiet kontrolliere.

Eine Blaupause für den Umgang mit dem Rest des Westjordanlands

Unter Völkerrechtlern herrscht weitgehend Konsens darüber, dass die Besatzung ebenso wie die Annexion des Westjordanlandes oder Teilen davon, völkerrechtswidrig ist. Israel argumentiert, man habe das Land 1967 im Zuge eines Verteidigungskriegs erobert, der dem Land aufgezwungen wurde. Schon zuvor sei der jüdische Staat wiederholt vom Westjordanland aus angegriffen worden, daher habe man das Recht, das Gebiet zu kontrollieren. Nur eine Minderheit von Völkerrechtlern teilt diese Einschätzung.

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Palästinensischer Bauer im Jordantal: Die Bewegungsfreiheit endet an der Dorfgrenze

In jedem Fall würde eine Annexion des Jordantals eine Zweistaatenlösung noch unwahrscheinlicher machen, als sie es jetzt schon ist. Das Gebiet, auf dem theoretisch noch Platz wäre für einen palästinensischen Staat würde noch einmal um 30 Prozent kleiner als ohnehin schon. Israel würde das palästinensische Gebiet künftig vollständig umschließen.

Vielmehr würde eine Annexion des Jordantals die Blaupause liefern für den Umgang Israels mit dem restlichen Westjordanland: Israel nimmt sich einseitig die Gebiete, die es für wichtig erachtet. Um den Rest, die Befriedung der palästinensischen Städte, sollen sich palästinensische Behörden kümmern. So kann Israel de facto die Kontrolle über das gesamte Westjordanland ausüben, aber gleichzeitig darauf verzichten, den Palästinensern die vollen staatsbürgerlichen Rechte, wie etwa das Wahlrecht in Israel, zu gewähren. Der Status der Palästinenser im Westjordanland als Bürger zweiter Klasse im künftig vergrößerten Israel wäre dann dauerhaft festgeschrieben.

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