Ex-Premier Cameron rechnet mit Boris Johnson ab „Die Wahrheit zuhause gelassen“

Er hatte das Brexit-Desaster mit dem Referendum 2016 überhaupt erst möglich gemacht: Jetzt bricht David Cameron sein jahrelanges Schweigen – und übt scharfe Kritik an Amtsinhaber Boris Johnson.

Getty Images
Premierminister Boris Johnson (l.) und sein Vorgänger David Cameron in der Londoner U-Bahn (Archiv)

Freitag, 13.09.2019  
22:02 Uhr

Boris Johnson stehen wahrlich schwierige Tage bevor: Ab kommenden Dienstag befasst sich der Oberste Gerichtshof Großbritanniens mit der hochumstrittenen Entscheidung des Premiers, das Parlament in eine mehrwöchige Zwangspause zu schicken. Ende des Monats kommen Johnsons zutiefst zerstrittene Tories zu ihrem Parteitag in Manchester zusammen. Und über allem stehen natürlich diese Fragen: Wie geht es beim Brexit weiter? Und kann sich Johnson im Amt halten?

Ausgerechnet jetzt meldet sich einer der größten Gegner des Regierungschefs zu Wort – so ausführlich wie nie in den vergangenen Jahren. Es handelt sich um jenen Mann, der einst das Brexit-Referendum durchführen ließ, um den rechten Flügel seiner Partei ruhig zu stellen; der aber im Wahlkampf für den EU-Verbleib warb – beides vergeblich. Im Sommer 2016 gab er sein Amt als Premierminister ab: David Cameron.

Eigentlich ist es im Vereinigten Königreich üblich, dass sich ehemalige Regierungschefs nicht kritisch über ihre Nachfolger äußern. Doch normal ist in der britischen Politik schon lange nichts mehr. Cameron hat ein Buch geschrieben, 752 Seiten dick, „For the Record“ lautet der Titel – „Fürs Protokoll“. Es geht darin um seine Zeit in der Politik. Vor allem aber ist es eine Abrechnung mit den Brexit-Ultras bei den Tories: Mit Michael Gove, der heute im Kabinett für die „No Deal“-Planungen zuständig ist und einst die Kampagne der EU-Gegner anführte. Und mit Boris Johnson.

„Es war lächerlich“

Das Buch soll kommende Woche veröffentlicht werden. Die britische „Times“ berichtet nun vorab darüber und hat mit Cameron selbst ein Interview geführt. Johnson und Gove, sagt der frühere Tory-Chef darin, hätten sich im Referendumswahlkampf 2016 „schrecklich“ aufgeführt. Sie hätten die Regierung „demoliert“, so Cameron. „Es war lächerlich.“ Die beiden und andere hätten „die Wahrheit zuhause gelassen“. Seinen früheren Freund Gove nennt Cameron dem Bericht zufolge im Buch sogar „verlogen“.

Vertreter der Brexit-Kampagne, zu deren Frontleuten auch Johnson gehörte, hatten nachweislich mit Falschaussagen und Lügen für den EU-Ausstieg Stimmung gemacht. So zogen sie etwa mit der erfundenen Parole durchs Land, London müsse wöchentlich 350 Millionen Pfund an Brüssel überweisen und das Geld könne man einfach so ins britische Gesundheitssystem NHS stecken.

Er selbst denke noch „jeden einzelnen Tag“ über die verlorene Volksabstimmung und deren Konsequenzen nach, sagt Cameron nun. „Ich mache mir darüber große Sorgen.“

Cameron will zweites Referendum nicht ausschließen

Der Ex-Premier äußert sich auch zum aktuellen Polit-Chaos in Westminster. Johnsons Manöver, das Parlament kaltzustellen, damit ihm die Abgeordneten bei seinem harten Brexitkurs nicht in die Quere kommen, bezeichnet Cameron als „durchtriebenes Handeln“. Auch den Rauswurf von 21 Tory-Rebellen aus Partei und Fraktion unterstütze er nicht.

Ein zweites Referendum, das Johnson aber auch dessen unmittelbare Vorgängerin Theresa May stets abgelehnt hatten, hält er explizit für möglich: „Ich denke nicht, dass wir es ausschließen können.“ Er denke nicht, dass ein ungeregelter Brexit ohne Abkommen „eine gute Idee“ sei. Genau darauf steuert Johnson allerdings zu – auch wenn die Abgeordneten zuletzt ein Gesetz erließen, dass einen harten Brexit zumindest deutlich erschwert.

Cameron und Johnson waren seit Studienzeiten Weggefährten und Widersacher zugleich. Die Auseinandersetzung erreichte ihren Höhepunkt, als sich Johnson 2016 – offensichtlich aus machttaktischen Erwägungen – dazu entschied, vor dem Referendum für und nicht gegen einen EU-Austritt zu kämpfen. Damit stellte er sich offen gegen den damaligen Regierungschef Cameron.

Camerons Buch könnte den erbitterten Kampf zwischen moderaten Konservativen und den beinharten Rechten in der Tory-Partei zusätzlich befeuern. Johnson hatte bei seinem Amtsantritt im Juli dieses Jahres das Kabinett völlig neu aufgestellt. Gemäßigte Minister mussten gehen, dafür zählen nun jede Menge Brexit-Ultras zur Regierung und zum Beraterstab in Downing Street. Offensichtlich verfolgt der Premier damit die Strategie, die Tories für die erwarteten baldigen Neuwahlen als klare Brexit-Partei aufzustellen.

Quelle