Hamburger SV unter Trainer Dieter Hecking Der Aufstieg

Schlechtes Management und fatale Außendarstellung prägten jahrelang das Image des HSV. Doch vor dem Derby gegen St. Pauli erhält der Verein viel Lob. Das hat mit dem Fall Bakery Jatta zu tun – aber auch mit Dieter Hecking.

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HSV-Trainer Dieter Hecking (rechts), Bakery Jatta: „Das alles hat uns enger zusammenwachsen lassen“

Montag, 16.09.2019  
16:11 Uhr

Fragt man Dieter Hecking, ob es ihm unheimlich sei, dass der Hamburger SV derzeit von allen Seiten gelobt wird, wundert er sich. „Warum?“, fragt der Trainer des HSV.

Na ja, sagt man, der HSV war zuletzt so etwas wie der Dorfdepp des deutschen Fußballs. Viele lachten über ihn, wenigen tat er leid. Aber vor dem Derby beim FC St. Pauli am Abend in der Zweiten Liga (20.30 Uhr; TV: Sky) gibt es bundesweit Zuspruch – sogar vom Stadtrivalen selbst. Eine eigentümliche Verwandlung.

Hecking findet das nicht grundsätzlich sensationell: „Irgendwann kann es doch auch mal wieder gute Zeiten für den HSV geben“, sagt er im Gespräch mit dem SPIEGEL. Und vielleicht haben die ja gerade angefangen. Wenn, dann hat das mit dem Fall Bakery Jatta zu tun – aber auch mit Dieter Hecking.

Als der 55-Jährige im Mai erfuhr, dass der HSV an ihm interessiert ist, da hätte er sich auch Besseres vorstellen können. Der HSV war für einen erfolgreichen Trainer so attraktiv wie Wellness-Urlaub auf einer Großbaustelle. Ein zerfallener Klub, eine Ruine.

Sich kleiner machen, um größer zu werden

Nach dem ersten Abstieg der eigenen Bundesligageschichte hatten die Hamburger den Wiederaufstieg verspielt. Es war die typische HSV-Melange aus Selbstüberschätzung und Unzulänglichkeit: Nachdem man die Hinrunde auf Platz eins beendet hatte, spielte das Team die viertschlechteste Rückrunde aller Zweitligisten und wurde Vierter. Trainer Hannes Wolf und Sportchef Ralf Becker mussten gehen. Aber Hecking dachte, „dass das genau der richtige Moment ist, vielleicht einen Schritt nach hinten zu machen, um einen Schritt nach vorn zu gehen.“ Sich kleiner machen, um größer zu werden, das sollte fortan der Modus sein.

Die halbe Mannschaft tauschten Hecking und der neue Sportvorstand Jonas Boldt aus und integrierten auch die zuvor bereits eingefädelten Transfers wie David Kinsombi, Jeremy Dudziak und Lukas Hinterseer. Am Ende waren teure, bundesligaerfahrene Akteure wie Pierre-Michel Lasogga und Lewis Holtby weg. Neu hinzu kamen Profis, die noch nicht viel erreicht hatten: der begabte, aber verletzungsanfällige Offensivspieler Sonny Kittel (Ingolstadt) oder der sehr talentierte Sechser Adrian Fein (FC Bayern II).

„In den letzten Jahren haben sich manche Spieler hier größer gesehen als der Verein. Das wollten wir ändern“, sagt Hecking. Und mit dem Personal begannen er und Boldt, auch die eigene Selbstwahrnehmung auszutauschen.

„Wir sind nicht größer als die anderen Zweitligisten“, sagt Hecking, was für den HSV eine Schrumpfung auf die Größe von Heidenheim bedeutet. Aber Hecking sieht das pragmatisch: „Der Anspruch, dass der HSV größer ist, leitet sich nur aus den Erfolgen der Vergangenheit ab. Aber die liegen Jahre zurück. Wenn wir wieder denken, dass wir größer sind als der Rest, dann werden wir Schiffbruch erleiden.“

Ist das wirklich noch der HSV?

Bisher liegt das Schiff ganz gut in See. Nach fünf Zweitligaspielen steht der HSV mit 13 Punkten da und kann mit einem Remis oder einem Sieg gegen St. Pauli wieder die Tabellenführung vom VfB Stuttgart übernehmen.

Der baufällige HSV hat zumindest mal wieder ein dichtes Dach und einen frischen Anstrich bekommen. Nicht wenige Anhänger denken plötzlich beim Betrachten: eigentlich ganz hübsch. Bei einer Umfrage der „Hamburger Morgenpost“ bewerteten jüngst 15.000 HSV-Fans die Arbeit von Hecking zu 100 Prozent als „sehr gut“ (84 Prozent) oder „gut“ (16). Und die von Boldt zu 97 Prozent. Zufriedenheit mit der Klubführung? Ist das noch der HSV?

Diese Versöhnung liegt auch am Fall Jatta. Als der 2015 aus Gambia geflüchtete Angreifer Anfang August von der „Sport Bild“ der Identitätsfälschung verdächtigt wurde, tat der HSV, was ihm lange schon nicht mehr gelungen war: Er machte etwas richtig. Der Klub, in der Öffentlichkeit vornehmlich vertreten von Hecking und Boldt, glaubte dem Spieler und verteidigte ihn – und das zu einem Zeitpunkt, als noch keineswegs sicher war, dass die Ermittlungen eingestellt werden würden.

Es klingt hart, weil Jatta wochenlang bezichtigt und rassistisch attackiert wurde (in Karlsruhe), aber für den HSV war diese für den Spieler peinigende Zeit auch eine Chance, sich zu rehabilitieren – nach innen sowie nach außen. Und er nutzte sie.

Pointiert beschrieb es der ehemalige Bundesligaprofi Hans Sarpei:

Auch von anderer Seite gab es Anerkennung. Friedhelm Funkel, Trainer von Fortuna Düsseldorf, sagte in einem Interview mit Dazn: „Das ist das Beste, was der HSV in den letzten fünf, sechs, sieben Jahren gemacht hat.“ Das ging soweit, dass das „Hamburger Abendblatt“ fragte: „Wird der HSV das neue St. Pauli?“

„Das alles hat uns enger zusammenwachsen lassen. In dieser Zeit ist etwas entstanden“, sagt Hecking über den Fall Jatta.

Der Fall Junior Malanda

Im Januar 2015 hat Hecking erlebt, wie eine Mannschaft eine Tragödie durchlebte. Als der belgische Mittelfeldspieler Junior Malanda bei einem Autounfall starb, war Hecking beim VfL Wolfsburg erst als Mensch und dann als Trainer gefragt. Er konnte das Team aufrichten und ihm ein Wir-Gefühl verleihen. Wolfsburg wurde vier Monate später Bundesligazweiter und Pokalsieger.

In schwierigen Momenten habe er sich seither oft gefragt: „Was würde jetzt der Mensch Dieter Hecking tun?“, erzählt Hecking. Es sind zwei Fälle, die man nicht miteinander vergleichen kann. Aber: „Die Erfahrung von damals habe ich mitgenommen. Das hilft mir, um zu erkennen, wann ich als Trainer emphatisch sein muss. “

Der ehemalige Polizist und fünffache Familienvater verbindet Strenge mit einer gewissen Papahaftigkeit, die einer Mannschaft in schwierigen Situationen Halt geben können. Oder eben einem Spieler. In seinem bisher einzigen Statement dankte Jatta besonders Hecking und Boldt: „Sie waren da für mich in der schwersten Zeit meiner Karriere“, schrieb der 21-Jährige.

Kurze Halbwertszeit für heitere Momente

Dass sich bezüglich Jatta beim HSV jetzt alle in den Armen liegen, kann man aber nicht behaupten. Obwohl Hecking und Boldt den „Sport Bild“-Award Mitte August boykottierten, waren Klubchef Bernd Hoffmann und HSV-Präsident Marcell Jansen dort Gast. Das soll intern für Aufruhr gesorgt haben.

Heitere Momente haben beim HSV manchmal eine kurze Halbwertszeit. Als das Derby gegen St. Pauli Mitte März 4:0 gewonnen wurde und sich das Team als Zweiter schon zurück in der Bundesliga wähnte, gewann es danach keine der folgenden acht Partien und verpasste den Aufstieg.

Dieter Hecking formuliert ohnehin ein anderes Ziel. „Manche sagen, dass nur der Aufstieg ein Erfolg wäre. Ich sehe das anders“, sagt er. „Wenn wir den Turnaround schaffen, dass der HSV am Ende wieder positiv und sympathisch wahrgenommen wird, dann wäre das schon eine erfolgreiche Saison.“

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