Neuer Oberbürgermeister von Hannover „Es gab eine Riesenangst“

Belit Onay ist der erste Oberbürgermeister einer Großstadt, der türkische Wurzeln hat. Er spricht über die Polarisierung der Gesellschaft, über Hass im Netz – und die Schwierigkeiten des Aufstiegs als Gastarbeiterkind.

Julian Stratenschulte/ DPA
Belit Onay: „Ein sehr, sehr cooles Gefühl“

Dienstag, 12.11.2019  
19:00 Uhr

Der Grünenpolitiker Belit Onay wurde am Wochenende zum Oberbürgermeister von Hannover gewählt. Mit 52,9 Prozent setzte er sich gegen den CDU-Bewerber und Ex-VW-Manager Eckhard Scholz durch. Er ist der erste Oberbürgermeister einer Landeshauptstadt mit türkischer Migrationsgeschichte. Es ist ein Ergebnis mit Strahlkraft weit über Hannover hinaus. In sozialen Medien aber wird der neue Oberbürgermeister von Nationalisten und Rassisten beschimpft.

SPIEGEL: Was war das für ein Gefühl, Oberbürgermeister zu werden?

Onay: Das war eine emotionale Explosion. Ein sehr, sehr cooles Gefühl. Es war ein historischer Abend.

SPIEGEL: Sie sind der erste Oberbürgermeister einer Landeshauptstadt, der eine Migrationsgeschichte hat. Ihre Eltern stammen aus der Türkei. Welches Signal sendet das?

Onay: Gerade in diesen Zeiten, in der Populismus und Rassismus im Aufwind sind, verbinden viele Menschen mit meiner Wahl eine sehr starke Hoffnung. Andererseits ist es für viele ein Reizthema. Das merke ich an den Diffamierungen in den sozialen Netzwerken.

Zur Person
Belit Onay, geboren 1981 in Goslar, ist Oberbürgermeister von Hannover. Er studierte Jura in der niedersächsischen Landeshauptstadt. Seit 2008 ist er Mitglied der Grünen. Von 2011 bis 2014 war der Grünen-Politiker Ratsherr in Hannover, seit 2013 ist er Abgeordneter im niedersächsischen Landtag.

SPIEGEL: Können Sie das ein wenig näher beschreiben?

Onay: Ich war mir natürlich bewusst, dass meine Wahl für Öffentlichkeit sorgen würde. Aber dass der Hass so stark ist, hätte ich nicht gedacht. Die Anfeindungen sind ganz unterschiedlich. Entweder man wird diffamiert, weil man türkischstämmig ist – und damit gleich Islamist oder Erdogan-Anhänger. Oder man ist linksextrem. Es sind rassistische Kommentare dabei, aber auch Kommentare aus identitären Kreisen – sowohl aus Deutschland wie auch aus der Türkei. Das ist die eine Seite.

SPIEGEL: Und die andere?

Onay: In der Stadt gratulieren mir unglaublich viele Menschen. Sie freuen sich wirklich, auf der Straße, in der Bahn. Das hat mehr Wert für mich als das, was in den sozialen Netzwerken abgeht. Die meisten Menschen in Hannover wollten ein Signal setzen, eine Botschaft der Vielfalt. Sie wollten diesem Hass, dieser Häme, dieser Polemik, diesem Gebrüll im Netz keinen Raum geben. Das ist das, was zählt.

SPIEGEL: Welche Bedeutung haben Politiker mit Migrationsgeschichte in Deutschland?

Onay: Leider sind Politiker mit Migrationshintergrund Mangelware. Sie sind kaum präsent, weder im Bundestag oder im Kabinett noch in den Landesparlamenten. Deswegen ist meine Wahl für viele eine Besonderheit. Die meisten Oberbürgermeister einer Großstadt erfahren am ersten Tag ihrer Amtszeit nicht so viel Aufmerksamkeit wie ich im Moment.

SPIEGEL: Warum gibt es in Deutschland so wenig Politiker mit Migrationsgeschichte?

Onay: Ein Grund ist sicherlich die innere Logik von Parteien. Ich habe das selbst erlebt – wenn man einer Partei beitritt, ist es, als würde man zum Halbjahr in eine neue Klasse kommen. Alle kennen sich, es gibt schon Netzwerke. Viele sind durch parteipolitisch bereits aktive Eltern quasi damit aufgewachsen. Bei vielen Menschen mit Migrationshintergrund ist das nicht so. Die Parteien tun sich schwer, diese Leute aktiv anzusprechen, sie anzuwerben. Das hängt auch mit Vorbildern zusammen. Wenn junge Menschen mit Migrationshintergrund andere Politiker mit Migrationshintergrund sehen, die schon aktiv sind, motiviert sie das natürlich, selbst mitzumischen.

SPIEGEL: Was würde sich ändern?

Onay: Momentan gibt es eine starke Fokussierung auf die Einzelpersonen, die sichtbar werden. Wenn wir mehr wären, dann wäre ich nur einer von vielen. Dann würde es mehr um den politischen Diskurs an sich gehen. Das muss das Ziel sein.

SPIEGEL: Welche Rolle hat Ihr Migrationshintergrund im Wahlkampf gespielt?

Onay: Gar keine so große Rolle. Da ging es viel um Sachthemen, die Wohnungspolitik, die Verkehrspolitik. Nach der Wahl hat das an Bedeutung gewonnen. An den Wahlkampfständen habe ich oft positive Rückmeldungen bekommen. Die Menschen fanden cool, dass ich kandidiere. Mit meinem Namen, meiner Sichtbarkeit.

SPIEGEL: Sie verweisen immer wieder darauf, was für eine Rolle der Brandanschlag von Solingen für Ihre Politisierung gespielt hat. Warum?

Onay: Ich war damals zwölf Jahre alt. Meine Eltern haben sehr ernsthaft diskutiert, ob wir in die Türkei zurückgehen sollen. Es gab eine Riesenangst. Für mich wäre das aber kein Zurück gewesen, sondern ein Weggehen aus Goslar, aus Deutschland, meiner Heimat. Das war sehr belastend. Nach dem Anschlag in Halle höre ich von jüdischen Freunden, dass sie derzeit das Gleiche diskutieren. Das ist ein Rückschlag für unsere offene Gesellschaft.

SPIEGEL: Inwiefern hat sich die Gesellschaft in den vergangenen 30 Jahren verändert?

Onay: Der Hass ist noch immer sehr präsent. Das zeigt der Anschlag in Halle, aber auch die Anschläge auf Moscheegemeinden, generell die Attacken auf Minderheiten in Deutschland. Hass führt zu Gewalt. Die rechtsextreme Szene hat sich zudem stärker bewaffnet. Das ist eine krasse Dramatisierung der Situation.

SPIEGEL: Was kann man gegen den Rassismus tun?

Onay: Leider ist das nicht so einfach. Ich glaube, es braucht zum Beispiel eine stärkere Beobachtung der Szene. In sozialen Medien müssen Hasskommentare stärker kontrolliert und unterbunden werden. Es darf keine Fake News geben. Denn diese fabrizierten Geschichten sind der Nährboden für radikale Gedankenwelten und, in der Folge, für Gewalttaten. Aber auch im Bildungsbereich muss mehr gegen Rassismus getan werden. Es muss klar sein: Diskriminierung ist nie nur ein Problem für die Betroffenen, sondern für die Gesamtgesellschaft. Das Klima wird dadurch total vergiftet.

Quelle