Pressestimmen zum Nato-Gipfel „Wer ist das neue Hirn der Nato?“

Nach der „Hirntod“-Diagnose des Franzosen Macron standen die Vorzeichen für den Nato-Gipfel auf Streit. Die größte Schwäche der Allianz, sagen die Kommentatoren, ist jedoch der „irrlichternde US-Präsident“.

Evan Vucci/AP
US-Präsident Trump auf dem Nato-Gipfel

Mittwoch, 04.12.2019  
21:40 Uhr

„Tagesschau“
Von dem Gipfel wird allerdings nicht die Abschlusserklärung in Erinnerung bleiben oder das Kanzlerin Angela Merkel und US-Präsident Donald Trump hinterher von einem Erfolg sprachen. Nein, von dem Treffen bleibt der Eindruck einer kriselnden, zerstrittenen Nato zurück. Die Bündnispartner haben es nicht vermocht, die tiefen Gräben zuzuschütten.

Es sind die Egoismen einzelner, die das Bild prägen und der Allianz schaden. Derzeit sind es sind vor allem (…) Trump, Macron, Erdogan, die mehr oder weniger rücksichtlos ihre Linie verfolgen und dabei für Unsicherheit im Bündnis sorgen.

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat Recht. In der 70-jährigen Geschichte des Bündnisses gab es immer wieder Differenzen. Es hat sich neuen Lagen wie nach dem Kalten Krieg angepasst und Krisen überwunden. Selten aber traten völlig unterschiedliche Interessen so deutlich zu Tage.

Es ist schwer vorstellbar, wie sich das in Zukunft ändern soll. Wenn es den Einzelnen dient, werden sie ihren Weg gehen und sich kaum enger mit den Bündnispartnern abstimmen.

„Frankfurter Allgemeine Zeitung“
Die wichtigste der unausgesprochenen Fragen lautet: Wer ist das neue Hirn der Nato, wenn die Supermacht Amerika sich nicht mehr den Kopf wegen Europas Sicherheit zerbrechen will? Deutschland, dessen Lust am strategischen Denken und Fähigkeit zum außenpolitischen Handeln selten über den auch jetzt wieder unterbreiteten Vorschlag hinausreichen, einen Arbeitskreis zu bilden? Großbritannien, das noch mehr um sich selbst kreist als Deutschland, und das nach dem Austritt aus der EU als ein Kleinbritannien von Trumps Gnaden enden könnte?

Man kann Macron beileibe nicht in allem folgen, was er in dem langen Interview zur europäischen Sicherheit von sich gab, insbesondere nicht seiner Linie im Verhältnis zu Moskau. Aber wo ist der europäische, gar deutsche Politiker, der die strategischen Herausforderungen, vor denen Europa steht, einschließlich der chinesischen, so durchdeklinieren könnte und würde wie er?

Dan Kitwood/Getty Images
Nato-Gipfel in London

DW – Deutsche Welle, Bonn
Eine der größten Schwächen des Bündnisses ist der irrlichternde US-Präsident. Nach Lust und Laune beleidigt er seine Partner, lobt Autokraten wie den türkischen Präsidenten oder Nordkoreas Kim Jong Un oder stellt die Nato gleich ganz infrage. Auf Emmanuel Macrons Kritik aber reagierte er in London allergisch und schwang sich plötzlich zum stärksten Verteidiger des Bündnisses auf. Die Nato kritisieren darf offenbar nur Trump selbst. Es ist ein infantiles Schauspiel.

„Kölner Stadt-Anzeiger“
Das größte Sicherheitsrisiko für Deutschland ist das Zerbrechen dieser Bündnisse. Ohne die EU wären wir ökonomisch geliefert, ohne die Nato ein schutzloser Staat zwischen den Weltmächten USA, Russland und China. Diese Erkenntnis ist nach sieben Jahrzehnten des Friedens nicht mehr jedem präsent. (…) Mit den Tiraden Donald Trumps, dem anstehenden Brexit, den Spannungen rund um die Türkei und zuletzt Macrons Äußerungen hat das Bündnis immer wieder in den Abgrund geblickt. Es braucht diese Momente, um erschreckt aufzuwachen und zu denken: Zum Glück geht es uns miteinander noch ganz okay. Es lohnt sich, daran zu arbeiten, dass dies so bleibt.

„Hannoversche Allgemeine Zeitung“
Das deutsche Verständnis als Mittler und Schlichter in internationalen Bündnissen ist ein ehrenwerter Ansatz. Er reicht aber nicht mehr aus. Deutschland muss in der internationalen Politik Führung übernehmen. Es ist die eine Chance, gemeinsam mit den vielen Partnern, die diese Initiativen erwarten, die Agenda internationaler Bündnisse maßgeblich mitzubestimmen. Es ist auch ein Weg, sie handlungsfähig zu erhalten. Das größte Sicherheitsrisiko für Deutschland ist das Zerbrechen dieser Bündnisse. Ohne die EU wären wir ökonomisch geliefert, ohne die Nato ein schutzloser Staat zwischen den Weltmächten USA, Russland und China.

Kommentar zu Macrons „Hirntod-Diagnose“

„Volksstimme Magdeburg“
Zu den bisherigen globalen Machtzentren Nato und Russland hat sich China gesellt. Seit Jahren steigen Pekings Rüstungsausgaben im zweistelligen Bereich, was sich im militärischen Potenzial niederschlägt. Darauf stellt sich der Nordatlantikpakt ein. Das ist der Klebstoff der Allianz, genauso wie die Vorbereitung auf einen möglichen Krieg im Weltall. Ganz irdisch hingegen sind die internen Auseinandersetzungen.

Frankreichs Präsident ist mit der Hirntod-Diagnose so weit vorgeprescht, dass die Nato-Staatenlenker schwerlich Harmonie heucheln können. Der türkische Präsident Tayyip Erdogan will gleich mit dem Kopf durch die Wand. Ihm ist die Sicherheit Osteuropas wurst, dafür soll die Nato die kurdische YPG, eben noch zuverlässiger Verbündeter, als Terrorbande ächten. Waffen kauft die Türkei aber gern in Russland. Gegen diese Unverfrorenheit mutet der Streit um deutsche Nato-Beiträge lächerlich an.

„Der Standard“, Wien
Die Art, wie in der Nato diskutiert wird, verdeckt wichtige Fragen bezüglich ihres Handelns – und berechtigte Reformforderungen. Wenn Macron vom „Hirntod“ spricht, dann ist der Befund, dass das Bündnis ohne die USA wenig tun kann, ebenso richtig wie problematisch – doch die Wortwahl verunmöglicht Debatten. Trump mag das Bündnis derzeit nicht mehr „obsolet“ nennen. Er würde es wohl trotzdem am liebsten begraben. Andere Staatschefs werden ihm diese Arbeit abnehmen, so sie ihr Vorgehen nicht bald ändern.

Quelle