Stigma Fehlgeburt: „Mir wurden meine Gefühle abgesprochen“

Ich hatte nie das Gefühl, dass man in der Öffentlichkeit über Fehlgeburten spricht. Frauen reden untereinander manchmal über das Thema, aber auch nur, wenn eine das zum Beispiel erlebt hat. Das Nicht-Reden führt aber dazu, dass man bei so einem schweren Verlust alleine ist. Ich hab das selber erlebt, bei meiner zweiten Fehlgeburt. Bei meiner ersten war ich 21 Jahre alt und wollte auch keine Schwangerschaft. Beim zweiten Mal war es anders. Ich wollte das Kind. Das war letztes Jahr. Am Anfang habe ich kaum jemandem von der Schwangerschaft erzählt – außer meiner besten Freundin und meiner Schwester. Meine Schwester riet mir, das keinem zu sagen, da es ja eine Fehlgeburt sein könne und alle wären enttäuscht. Also schwieg ich. Mir hat das aber nicht wirklich geholfen. Ich hatte das Gefühl, dass ich damit alleine war. Als ich die Fehlgeburt hatte, hatte ich unglaublich starke Schmerzen und Blutungen. Ich rief heulend den Krankenwagen. Im Krankenhaus musste ich zwei Stunden auf den Arzt warten. Währenddessen weinte ich die ganze Zeit, weil ich wusste, dass ich gerade mein Kind verliere. Man sagte mir nur, ich solle mich doch beruhigen. Das war der Horror. 
Über die Fehlgeburt kann ich erst seit Neustem reden. Dafür musste ich eine Therapie machen. Das klingt komisch, aber irgendwie habe ich mich schuldig gefühlt. Ich hatte das Gefühl, dass irgendwas mit mir nicht stimmt. Ich habe mich ständig gefragt, wieso es bei anderen Frauen so einfach klappt und bei mir nicht. Daran sieht man, dass das Thema so selten angesprochen wird, weil man denkt, dass man eine Ausnahme wäre – aber das stimmt ja nicht. 
Was kann unsere Gesellschaft also besser machen? 
Anette Kersting ist Direktorin an der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Universitätsklinikum Leipzig und hat unter anderem eine Onlinetherapie für Menschen entwickelt, die einen Schwangerschaftsverlust erlitten haben. Wir haben sie gefragt, wie man über Schwangerschafstverluste sprechen kann – und ob unsere Gesellschaft neue Rituale braucht. 
bento: Frau Kersting, wieso fällt es uns so schwer über Fehlgeburten zu sprechen?
In unserer Gesellschaft gibt es keine festen Rituale für Verluste von ungeborenen Kindern. Zwar gibt es auf einigen Friedhöfen Grabsteine für ungeborene Kinder, aber das ist noch nicht lange so. 
bento: Das heißt, wenn es gesellschaftliche Regeln wie Beerdigungen gäbe, würde es den Betroffenen leichter fallen, sich zu öffnen? 
Sie würden dadurch mehr Verständnis bekommen, weil die Trauer einen Platz hätte. 
bento: Was hält uns noch davon ab, über Fehlgeburten zu sprechen?
Ich höre oft von betroffenen Frauen, dass sie sich nicht äußern wollen, weil sie Angst haben, auf Unverständnis zu stoßen. Sie werden mit Äußerungen konfrontiert, dass das ja gar nicht so schlimm sei, weil das Kind noch nicht gelebt habe oder dass sie ja noch so jung seien und noch ein Baby bekommen könnten. Solche Bemerkungen übersehen die Bindung zwischen Mutter und Kind. Die entsteht, sobald man weiß, dass man schwanger ist.
bento: Was kann man als Freundin oder Verwandter denn besser machen? 
Wichtig ist, dass man sich bewusst wird, ob man über das Thema überhaupt sprechen möchte und einen Teil der Trauer aushalten kann. Davor haben manche Menschen Angst. 
Wenn man sich unsicher ist, ob man die Betroffene auf die Trauer ansprechen kann, sollte man sie ganz offen fragen, ob sie darüber reden möchte. Bei einem „Ja“ sollte man selber offen für das Thema sein und ein „Nein“ ist zu respektieren. Vielleicht ist es nicht der richtige Zeitpunkt.
bento: Würde es den Betroffen helfen, wenn man in unserer Gesellschaft öfter darüber reden würde?
Verluste können besser verarbeitet werden, wenn man soziale Unterstützung hat und wenn man Empathie spürt. Das Sprechen führt auch dazu, dass Themen weniger stigmatisiert werden. Das sehen wir zum Beispiel beim Thema Depressionen. Seitdem in der Gesellschaft offener über das Thema gesprochen wird, begeben sich mehr Menschen in Behandlung. 
bento: Warum raten Ärzte trotzdem dazu, die Schwangerschaft erst mal geheim zu halten?
Es geht in erster Linie darum, die Frauen aufzuklären und sie darauf hinzuweisen, dass in den ersten drei Monaten das Risiko eines Verlustes höher ist. Das kann auch Auswirkungen auf die Bindung vieler Frauen zum Kind haben. So schützen sich zum Beispiel manche Frauen, die einen Schwangerschaftsverlust erlebt haben und dann erneut schwanger werden, indem sie zunächst keine so intensive Bindung eingehen.
bento: Sie haben eine Onlinetherapie für Eltern, die Kinder verloren haben, entwickelt. Wie funktioniert diese?
Die Betroffenen bekommen unterschiedliche Schreibaufgaben, in denen sie über ihre Gefühle schreiben. Die Therapie dauert insgesamt fünf Wochen. Ziel ist es, die Betroffenen bei der Verarbeitung des Schwangerschaftsverlustes zu unterstützen.
bento: Was bedeutet eine Fehlgeburt für Menschen mit Kinderwunsch?
Für manche Frauen ist es etwas ganz Elementares, ein Kind zu bekommen. Das gehört zu ihrer Identität. Wenn sie nicht schwanger werden können oder kein gesundes Baby bekommen können, erleben sie sich im Vergleich zu anderen Frauen als defizitär. Das trifft natürlich nicht auf jede Frau zu.
Dasselbe kann auch für Männer gelten, deren Spermienqualität eine Schwangerschaft verhindert. Das Problem bei einem Schwangerschaftsverlust ist aber, dass man oft nicht herausfinden kann, woran es lag. Es ist wichtig klar zu machen, dass es sehr unterschiedliche Gründe für einen Schwangerschaftsverlust geben kann – und dass viele nicht von den Eltern beeinflusst werden können.
bento: Weil viele Frauen sich sonst schuldig fühlen?
Ich erlebe das oft. Vielen Menschen fällt es leichter, sich selbst die Schuld für etwas zu geben, weil sie den Eindruck haben, die Situation beim nächsten Mal beeinflussen zu können.
bento: Hängt das auch davon ab, wie sehr unser Umfeld Kinder erwartet?
Die Erwartungen des Umfelds spielen sicherlich eine Rolle, aber wenn ein Kinderwunsch besteht, erwarten die Frauen das in erster Linie selber. Das bedeutet, wenn es nicht klappt, sind die Betroffenen enttäuscht. Die individuellen und gesellschaftlichen Erwartungen treffen da aufeinander.
bento: Wie verarbeiten Betroffene eine Fehlgeburt?
Das ist sehr individuell. Viele Frauen haben mir berichtet, dass sie sich gewünscht hätten, zusammen mit ihrem Mann trauern zu können, also in derselben Situation dieselben Gefühle zu erleben. Allerdings ist das selten der Fall. Manche Männer trauern zum Beispiel später, weil sie ihrer Partnerin erst einmal beistehen wollen. Aber es lässt sich nicht pauschalisieren, weil jeder Mensch anders trauert. 

Quelle