Flüchtlingshilfe für die Türkei: Die Milliardenfrage – DER SPIEGEL – Politik

Rechtzeitig vor der Türkei-Reise von Bundeskanzlerin Angela Merkel am Freitag zündete der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu neue Nebelkerzen. Die EU habe wichtige Vereinbarungen des Flüchtlingsabkommens von 2016 nicht eingehalten, klagte er gegenüber der „Bild“. Sein Land die versprochenen drei Milliarden Euro aus dem EU-Türkei-Deal noch immer nicht vollständig erhalten.

Cavusoglus Behauptung ist nicht neu, auch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat immer wieder ausstehende Zahlungen bemängelt, richtig ist sie aber so auch nicht. Die EU hat der Türkei im Zuge des Flüchtlingsdeals jeweils drei Milliarden Euro über je zwei Jahre versprochen. Die erste Tranche finanzierten die Mitgliedstaaten zu zwei Dritteln und die EU zu einem Drittel, bei der zweiten war es umgekehrt. Dieses Geld, und das ärgert die türkische Regierung, wird jedoch nicht einfach nach Ankara überwiesen – sondern fließt direkt in die Flüchtlingshilfe. Die Projekte, etwa der Bau von Schulen oder Krankenhäusern. Bezahlt wird jedoch erst, wenn die Leistung erbracht ist. Obwohl die kompletten sechs Milliarden Euro derzeit für konkrete Projekte verplant sind, sind daher tatsächlich erst 3,2 Milliarden Euro ausbezahlt.

Der türkische Außenminister weiß das, dass er das Thema nun trotzdem ein weiteres Mal anspricht, dürfte vor allem strategische Gründe haben: Seine Regierung will von Europa Geld über die vereinbarten 6 Milliarden Euro hinaus.Die Türkei hat nach eigenen Angaben mehr als 3,5 Millionen Flüchtlingen aus Syrien aufgenommen, mehr als jedes andere Land. Erdogan droht regelmäßig damit, den Flüchtlingsdeal aufzukündigen. In Wahrheit ist er aber auf das Geld aus Europa angewiesen. Die Türkei steckt in einer schweren Wirtschaftskrise. Die Bereitschaft der Bürger, sich für Geflüchtete zu engagieren, sinkt. Die Summe, die die Europäer der Türkei garantiert haben, ist höher als das Jahresbudget des Uno-Flüchtlingshilfswerks (UNHCR) für die gesamte Welt.

Angela Merkel hat sich offen dafür gezeigt, Ankara weiter finanziell zu unterstützen. Gegebenenfalls müssten der Türkei „für die vielen Aufgaben, die sie bei der Beherbergung von 3,5 Millionen Flüchtlingen hat, auch noch weitere Hilfen“ gegeben werden, sagte sie bereits vergangenen November. „Dazu wäre ich zum Beispiel bereit.“Das Problem der Kanzlerin ist nur, dass sie mit ihrer Haltung in Europa weitgehend alleine dasteht. Zwar fallen in den kommenden Jahren laut internen Berechnungen der EU-Kommission weniger Kosten an als nach 2016, da ein Großteil der Infrastruktur, Krankenhäuser etwa, geschaffen ist. 

„Merkel sollte keine ungedeckten Schecks versprechen“Doch auch geringere Summen sind bislang nicht vorgesehen. Zusätzliche Hilfen für die Türkei spielen bisher weder bei den Überlegungen für das EU-Budget für das Jahr 2021 eine Rolle noch beim Rahmenbudget für die Jahre 2021 bis 2027. „Merkel sollte in der Türkei keine ungedeckten Schecks versprechen“, mahnen EU-Diplomaten. Mit anderen Worten: das Geld, das die Kanzlerin jetzt zusagen kann, müsste die Bundesregierung wohl alleine zahlen. Unter EU-Staaten ist die Zahlungsbereitschaft auch deshalb gering, weil viele fürchten, der türkische Präsident könnte das Geld zweckentfremden. Erdogan hat wiederholt angekündigt, Flüchtlinge in Gebiete in Nordsyrien umzusiedeln, die sein Militär im vergangenen Herbst erobert hat.In der Türkei fühlt man sich hingegen zunehmend mit der Versorgung der Flüchtlinge alleine gelassen. Omar Kadkoy, Migrationsexperte der Denkfabrik Tepav in Ankara, weist darauf hin, dass die EU-Staaten ihr Versprechen, 72.000 Syrer aus der Türkei nach Europa umzusiedeln, nicht annähernd erfüllt haben. Die türkische Regierung gibt an, für die Flüchtlingshilfe rund 36 Milliarden Euro investiert zu haben. Die Kosten dürften weiter steigen. Nach Behördenangaben kommen in den nächsten Jahren alleine eine halbe Million syrische Kinder ins schulpflichtige Alter.  
Icon: Der Spiegel

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