Scheidungen in Ägypten: Kampf um die Rechte alleinerziehender Mütter – DER SPIEGEL – Politik

„Mein Ex-Mann hat gerichtlich beantragt, seine Tochter einmal in der Woche sehen zu können“, schreibt Engy A. in die Facebook-Gruppe. „Seit vier Jahren bringe ich sie jede Woche zum Treffpunkt, doch er ist kein einziges Mal aufgetaucht. Kann ich ihn verklagen?“

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Eine andere Frau schreibt: „Seit elf Monaten wohne ich wieder bei meinen Eltern. Mein Mann hat mich fast umgebracht, während ich schwanger war. Er verweigert die Scheidung und schickt mir Drohnachrichten.“Auf nahezu jeden Post folgen innerhalb weniger Stunden Dutzende Kommentare, in denen andere Frauen von ihren eigenen Erfahrungen berichten, an Anwälte verweisen oder einander ermutigen weiterzukämpfen – um Unterhaltszahlungen, um ihre Kinder oder ihre Sicherheit. Außerdem posten sie Jobangebote oder spenden, wenn einer Frau das Geld für Schulgebühren oder eine medizinische Behandlung fehlt.Die Facebook-Gruppe heißt „Egyptian Single Mothers“ und hat inzwischen knapp 65.000 Mitglieder. Nermeen Abousalem, 46, hat sie vor knapp vier Jahren gegründet. Die alleinerziehende Mutter dreier Kinder wollte einen Raum schaffen, in dem sich Frauen gegenseitig in Rechtsfragen, emotionalen Krisen und wirtschaftlichen Notlagen unterstützen können. Zudem tritt Abousalem, die sonst in der Personalabteilung eines Kommunikationsunternehmens arbeitet, regelmäßig in ägyptischen Medien auf, um die Wahrnehmung geschiedener Frauen zu verändern.

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Die Facebook-Gruppe „Egyptian Single Mothers“

In Ägypten lassen sich immer mehr Ehepaare scheiden: Um 83 Prozent ist die Scheidungsrate in den vergangenen 20 Jahren gestiegen. Fast die Hälfte aller Ehen scheitern Präsident Abdel Fattah al-Sisi zufolge in den ersten fünf Jahren.Die Soziologinnen Hoda Rashad, Zeinab Khadr und Eman Mostafa von der American University in Kairo beobachten, dass die jüngere Generation von Frauen in der arabischen Welt selbstbewusster ist und deshalb auch nicht mehr zwangsläufig in gewalttätigen, autoritären oder unglücklichen Beziehungen verharrt.„Die steigende Scheidungsrate ist möglicherweise ein Hinweis darauf, dass die patriarchale Dynamik der Ehe nicht vereinbar ist mit den erstarkenden Ambitionen von Frauen nach Autonomie und Selbstverwirklichung“, schreiben sie.

Viele Frauen hätten ihr gesagt, dass sie sich nicht mehr dafür schämten, geschieden zu sein, erzählt Abousalem. Die Facebook-Gruppen-Gründerin sieht auch darin einen Grund für den Scheidungstrend: „Durch die sozialen Medien sind sich Frauen ihrer Rechte viel bewusster. Sie wollen respektvoll behandelt werden und akzeptieren seltener häusliche Gewalt oder anderes Fehlverhalten.“Eine Scheidung bringt die Frauen jedoch häufig erneut in eine schwierige Lage – noch immer. Was sich nämlich in den vergangenen hundert Jahren kaum geändert hat, sind die ägyptischen Scheidungsgesetze.

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Eine Frau kauft Orangen auf einem Markt in Kairo
Amr Nabil/ AP

Während ein Mann lediglich dreimal mündlich die Scheidung verkünden muss, um eine Ehe zu beenden, müssen Frauen vor Gericht nachweisen, dass sie unmöglich mit ihrem Ehemann weiterleben können. Dafür lässt der Staat nur ganz bestimmte Gründe gelten: Ist der Mann krank oder impotent, dauerhaft abwesend, zum Beispiel im Gefängnis, versorgt er seine Familie nicht oder misshandelt er sie psychisch oder körperlich, so hat die Frau eine Chance vor Gericht die Ehe zu beenden und Unterhaltszahlungen zu bekommen.

Solche Verfahren sind aber nicht nur langwierig und teuer, sondern auch nahezu aussichtslos, vor allem wenn es um häusliche Gewalt geht. Denn um diese nachzuweisen, sind mindestens zwei Zeugen nötig – und Frauen gelten nur als halbe Zeugen.Eine Neuerung gab es jedoch, die auf der Scharia basiert und als extrem fortschrittlich gilt: Seit dem Jahr 2000 können sich Frauen ohne Zustimmung ihres Ehemanns scheiden lassen. Bei der sogenannten Khula‘-Scheidung verzichtet die Frau auf Unterhaltszahlungen und muss das Brautgeld zurückzahlen. Was nach einem ziemlich schlechten Deal klingt, bedeutet für ägyptische Frauen eine ungemeine Befreiung. Vorher war es ihnen nämlich kaum möglich, eine Ehe ohne Zustimmung des Mannes zu verlassen.

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Doch selbst wenn beide Partner einer Trennung zustimmen, müssen Frauen oft jahrelang vor Gericht um Unterhaltszahlungen kämpfen und bleiben in vielen Fällen mit ihren Kindern allein zurück – ohne Einkommen und stigmatisiert. Denn die ägyptische Gesellschaft gibt gemeinhin der Frau die Schuld für eine gescheiterte Beziehung.In einer außerordentlichen Geschwindigkeit erzählt Gruppengründerin Nermeen Abousalem von dem Unrecht, das ägyptische Frauen im Falle einer Scheidung erleben. Wenn Abousalem, glatte schwarze Haare und blaue Kontaktlinsen, über ihr Engagement redet und dabei gestikuliert, wackelt der Tisch und an ihren Handgelenken und Fingern klimpert und glitzert es.Eines der meistdiskutierten Probleme in der Gruppe sei, dass viele Männer sich nach der Scheidung überhaupt nicht mehr für die gemeinsamen Kinder interessierten – und nicht für sie zahlten, sagt sie. Das sei traumatisch für die Kinder und finanziell oft eine Katastrophe.

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Frauen mit ihren Kindern während eines muslimischen Feiertags in dem Dorf Dalgamon, Tanta
KHALED ELFIQI/ EPA-EFE/ REX

„Während ich früher nur die Ratschläge meiner engsten Freundinnen einholen konnte, habe ich nun ein Netzwerk von Tausenden zur Verfügung“, sagt Abousalem über die Facebook-Gruppe. Sie habe selbst, so sagt sie, alles an Bitterkeit und Enttäuschung durchlebt, was eine Scheidung in Ägypten mit sich bringt.„Ich habe die Gruppe mit dem Ziel gegründet, alleinerziehende Mütter zusammenzubringen und zu empowern“, sagt sie. Ihr liege vor allem das Wohl der Kinder am Herzen. „Nur wenn die Frauen psychisch gesund sind, können sie ihren Kindern die dringend benötigte Stabilität geben.“ Daher organisiert Abousalem auch Coachings und psychologische Beratung.Seit einigen Jahren arbeitet das ägyptische Parlament an einem neuen Familienstandsgesetz. Doch ob die neuen Scheidungsgesetze zugunsten der geschiedenen Frauen ausfallen werden, bleibt abzuwarten. Bisherige Gesetzesentwürfe haben Abousalem und andere Frauenrechtlerinnen stark kritisiert. Denn die Priorität der Regierung liege nach wie vor auf dem Schutz der traditionellen Kernfamilie.So schlug ein Parlamentarier vor, die Khula‘-Scheidung wieder abzuschaffen, um die steigende Scheidungsrate einzudämmen. Sie werde von Frauen leichtfertig genutzt – und gefährde die Grundfesten der Gesellschaft.
Icon: Der Spiegel

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