Corana-Virus: „Es ist ein Desaster“ – DER SPIEGEL – Panorama

Olta Tuholi seufzt, als sie am Telefon von ihrem neuen Alltag in Mailand erzählt. „Es ist ein Desaster”. Es ist Sonntag nachmittag, gerade war sie zum Einkaufen im Supermarkt, die Geschäfte haben in Italien ja auch Sonntags geöffnet. Aber heute wirkte die Stadt für sie wie ausgestorben. „Auf den Straßen war kaum jemand zu sehen”.

Umso größer die Aktivität in ihrem Email-Account. „Es gab eine Absage nach der nächsten”, sagt Tuholi, eine Psychotherapeutin, die für ein Mailänder Verlagshaus arbeitet. Das Yoga-Studio sagte die nächsten Kurse ab. Ihr Arbeitgeber empfahl, ab Montag das Büro zu meiden und im Home-Office zu arbeiten. „Und um 19 Uhr sollen alle großen Bars und Diskotheken schließen”, sagt Tuholi. „Gestern fingen sie mit den großen Events an, heute sagen sie auch die kleine Aktivitäten ab.” Sie ist nicht sicher, ob U-Bahnen, Straßbahnen und Busse in Italiens zweitgrößter Metropole am Montag noch fahren.Im Mai letzten Jahres hatte ich mit Olga Tuholi, die aus Bulgarien stammt, eine Sprachschule in Mailand besucht. Unsere Klasse bestand zu etwa 70 Prozent aus chinesischen Studenten, die – neben vielen Touristen und Geschäftsleuten aus China – in Mailand auch das Straßenbild mitprägen. Und heute? „Ich sehe schon seit Wochen keine Chinesen mehr in der Stadt”, sagt Tuholi, „eigentlich vermisse ich sie.”

In Italien schwankt die Stimmung gerade zwischen Hysterie, Sorge, Schulterzucken und Galgenhumor. Einerseits steigen die Zahlen der Infizierten immer weiter an: Am Sonntagabend waren es bereits mehr als 150, drei Menschen starben an dem Virus. Immer neue Schutzmaßnahmen werden bekannt. Die Mailänder Scala sagte ihre Opernvorführungen ab, Venedig beendete vorzeitig den Karneval. Und sogar Ischia ergriff drakonische Maßnahmen: Die weit im Süden vor Neapel gelegene Urlaubsinsel verfügte einen Einreisestopp für alle Italiener aus den vom Coronavirus besonders betroffenen Regionen Lombardei und Veneto. „Jetzt wird aus Science Fiction Realität”, sagte mir gerade ein Bekannter, der beruflich zwischen Rom und Mailand pendelt.

Andererseits geht das Leben für die meisten Italiener weiter wie gewohnt. Als ich gestern in Rom die Vatikanischen Museen besuchte, drängten sich zahllose Menschen auf engstem Raum in den Fluren und schoben sich geduldig Richtung Sixtinische Kapelle, wo nur für wenige Tage wertvolle Wandteppiche von Raffael an ihrem originalen Ort unter den Wand- und Deckengemälden Michelangelos ausgestellt waren. Von Vorsichtsmaßnahmen und Sorgen keine Spur, nirgends waren Schutzmasken in den Gesichtern der Besucher zu sehen. Ausverkauft sind sie stellenweise dennoch bereits. „Bei uns gibt es seit gestern keine mehr”, sagt mir ein Apotheker auf der Tiberinsel im Zentrum Roms, „versuchen Sie es doch in Trastevere”. Eine andere Apotheke verteilt die Masken gratis, zusammen mit einem Informationsblatt über Schutzmaßnahmen. Im Stadtbild sind die Masken trotzdem kaum zu sehen. Und während der Mailänder Bürgermeister seine Bürger mahnte, ihre sozialen Kontakte zu reduzieren, geht das soziale Leben in Rom ganz normal weiter. Heute mittag war ich auf einem Geburtstagsbrunch mit vielleicht zwei Dutzend Gästen, man begrüßt sich auf italienisch mit Küsschen auf die Wange, scherzt und singt, Corona war für niemanden ein Thema. Besorgte Nachfragen haben mich nur aus Deutschland erreicht.

Anders sieht es in den Sperrzonen im Norden des Landes aus. „Das ist eine Geisterstadt, die Menschen haben sich verbarrikadiert”, zitiert die Nachrichtenagentur AFP eine Bewohnerin von Codogno, einer lombardischen Kleinstadt mit 15.000 Einwohnern, die gestern neben zehn anderen Kommunen von der Umwelt abgeriegelt wurde. „Es ist unglaublich: Jetzt ist das China, das wir ihm Fernsehen sehen, bei uns”, sagte demnach eine andere Bewohnerin, bevor sie ihre Bäckerei abschloss. 

Im Nachbarort Casalpusterlengo, wo „Patient Nr. 1” in einem Unilever-Werk angestellt ist, liegen nach AFP-Angaben inzwischen die Nerven blank. Dutzende Menschen warteten demnach vor einem Supermarkt auf Einlaß, doch der wurde nur gruppenweise gewährt. „Jeder kommt dran, wir wollen nur Chaos vermeiden und für ausreichenden Schutz sorgen”, habe ein Manager gesagt. Aber seine Kunden hätten sich ereifert, so AFP: „Das ist unmenschlich”, habe ein Einwohner gesagt, „sich um vier belegte Brötchen prügeln zu müssen, ist einfach widerlich.”Davide Galli ist Professor für Management an der Università Cattolica in Mailand. Normalerweise würde er in dieser Woche an der Außenstelle seiner Uni  in Piazenza unterrichten. Doch die Außenstelle liegt nur wenige Kilometer vom Krisenherd um Codogno entfernt, zahlreiche Studenten wohnen in den nun gesperrten Kommunen, deshalb wurde das Gebäude komplett geschlossen. Als ich ihn am Telefon erreiche, ist Galli trotzdem entspannt. „Ich verspüre hier keine große Angst”, sagt der Professor. Immerhin bleibt das Mailänder Hauptgebäude, wo er ebenfalls ein Büro hat, geöffnet. Die Lehrveranstaltungen wurden zwar abgesagt, die Bibliothek geschlossen. Aber die Arbeitszimmer sind weiter zugänglich. Auch die Mensen blieben geöffnet, sagt er, damit die Studenten versorgt sind.Italien habe Menschen, die dem Corona-Virus ausgesetzt waren, zunächst nur eine freiwillige Quarantäne empfohlen, was nun den raschen Anstieg der Fallzahlen begünstigt habe – so analysiert Galli die jüngsten Entwicklungen. Jetzt allerdings würden strenge Kontrollen und Messmethoden angewendet, anders als in anderen europäischen Ländern. Deshalb, so Galli, seien die Fallzahlen in anderen EU-Staaten geringer. Die Corona-Symptome ähnelten in den meisten Fällen einer normalen Erkältung, sagt der Professor, jeden Winter würden in Italien sehr viel mehr Menschen an der Grippewelle sterben. „Es ist nicht die Pest”, sagt Galli, „der gesunde Menschenverstand wird sich durchsetzen”.
Icon: Der Spiegel

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