Schwergewichts-Weltmeister Tyson Fury: Der Triumph des Unberechenbaren – DER SPIEGEL – Sport

Als er nach seinem großen Sieg auf die Pressekonferenz kam, war Tyson Fury voll in seinem Element. Unter dem mit kleinen Bilder von sich selbst bedruckten weißen Anzug trug er kein Hemd, aber über der nackten Brust trotzdem eine grüne Krawatte. Die hatte er kurz zuvor Mauricio Sulaiman abgenommen, dem Präsidenten des Weltverbands WBC, dessen WM-Gürtel er durch seinen spektakulären Sieg gegen Deontay Wilder gesichert hatte. Mit seinem extravaganten Outfit hätte Fury gut auf jede deutsche Karnevals-Party gepasst. Stattdessen stand er im MGM Grand vor den einflussreichsten Box-Journalisten der Welt und brüllte ins Mikrofon: „Habe ich euch nicht unterhalten?“

Das Zitat stammt aus dem Hollywood-Blockbuster „Gladiator“. Russell Crowe brüllt es im Film den Zuschauern in einer Arena zu, kurz nachdem er im Alleingang eine übermächtig erscheinende Gruppe schwer bewaffneter Krieger in Rüstungen niedergemetzelt hat. Auch Fury hatte sich vor der Pressekonferenz eine blutige Schlacht mit einem Gegner geliefert, den im Vorfeld die meisten Experten für stärker gehalten hatten und der in einer martialischen schwarzen Rüstung in die Arena marschiert war, die tatsächlich stark an Gladiatoren erinnerte. Wie Crowes Charakter Maximus machte Fury als Außenseiter kurzen Prozess mit seinem Kontrahenten und wirkte dabei so souverän und überlegen, dass nie Zweifel aufkamen, wer das Duell gewinnen würde.

Mit bedingungsloser Entschlossenheit stürmte Fury nach dem ersten Gong in die Ringmitte und erwischte Wilder sofort mit einem harten Jab. Diese erste linke Führhand war für den favorisierten Weltmeister im Grunde schon der Anfang vom Ende. Der gesamte Rest des Kampfes, Furys gelungene Kombinationen, die vielen harten Treffer mit links und rechts, die beiden Niederschläge, Wilders stark blutendes Ohr ab Runde drei – vermutlich wegen eines zerfetzten Trommelfells – und schließlich das fliegende Handtuch, das zum Abbruch durch Ringrichter Kenny Bayless in der siebten Runde führte, waren letztlich Folgen dieses ersten satten Treffers wenige Sekunden nach Kampfbeginn.

So etwas hat es seit Ali nicht gegebenFury tat genau das, was er im Vorfeld angekündigt hatte: Er zwang Wilder in die Defensive und nahm dem Weltmeister so jede Chance. Anstatt selbst nach vorne zu marschieren und auf eine Deckungslücke für seine verheerende Rechte zu lauern, wie es Wilder sonst macht, wurde der US-Amerikaner in den Rückwärtsgang gedrängt – eine Rolle, in der er sich offensichtlich nicht wohl fühlt. „Unser Plan ist voll aufgegangen“, sagte Fury. „Ich habe kein Problem damit, vorher zu verraten, was ich tun werde, solange ich mir sicher bin, dass ich es tun kann.“ Nur mit einer Prognose lag der Brite nicht richtig und antwortete deshalb auf die Frage, was er gedacht habe, als Wilder in der dritten Runde schwer getroffen zu Boden ging: „Ich war ziemlich sauer, weil ich das Ende für die zweite Runde vorausgesagt hatte.“

Es ist eine typische Fury-Aussage. Der 31 Jahre alte Brite ist nicht nur der beste Schwergewichtler seiner Generation, er ist auch mit Abstand der unterhaltsamste. Außerhalb des Rings war er das schon lange, im Ring galt Fury bislang als technisch hoch veranlagt, ein Schwergewichtler, der für seine Größe und Masse erstaunlich beweglich ist und durch seine Defensivkünste jeden Gegner schlecht aussehen lässt – aber eben nicht als jemand, dessen Kämpfe ein besonderer Genuss für Zuschauer waren. Beim Sieg gegen Wilder zeigte er jedoch neue Qualitäten: Schlaghärte und ein offensives Arsenal, durch das der Name Fury inzwischen für ein Rundum-Spektakel steht, das man als Box-Fan nicht verpassen darf. Das wird seiner Karriere einen weiteren großen Schub verschaffen. Doch er hat mit seinem Sieg auch dem gesamten Sport geholfen: Fury hat dem Schwergewichtsboxen die Unberechenbarkeit zurückgegeben – eine elementare Komponente, die in Vergessenheit zu geraten drohte.

Ein Großmaul, das seine Gegner beleidigt, den K.o. für eine bestimmte Runde voraussagt, sich auf höchstem Niveau mit den Besten seiner Zeit misst und dabei dank überraschender technischer und taktischer Umstellungen sensationelle Siege feiert – so etwas hat es im Schwergewicht seit Muhammad Ali nicht gegeben. Mike Tyson war in seiner stärksten Zeit eine Naturgewalt, deren Kämpfe man nicht verpassen durfte. Aber die einzig interessante Frage war, in welcher Runde er seine Gegner k.o. schlagen würde. Lennox Lewis, Vitali und Wladimir Klitschko waren dominante Champions mit Ausstrahlung und Charisma. Doch ihren Kämpfen fehlte meist das Besondere. Vielleicht waren sie einfach zu überlegen, ihre Siege dadurch zu vorhersehbar.“Ganz viel Koks und die billigsten Nutten von Las Vegas“Auch Anthony Joshua, der die Klitschko-Ära durch einen spektakulären Sieg beendet hatte und seitdem als legitimer Thronfolger galt, wirkt durch seine souveränen Auftritte im Ring und seine stets freundlich-professionelle Art etwas zu steril und unnahbar. Die überraschende Niederlage gegen Andy Ruiz jr. hat Joshua dabei geholfen, etwas mehr Persönlichkeit zu entwickeln. Der Knick in der Vita macht ihn interessanter, ein Fury ist er aber nicht und wird er vermutlich auch nie werden – wobei das in vielen Bereichen auch gar nicht erstrebenswert ist.Furys homophobe, frauenfeindliche und antisemitische Ausfälle der Vergangenheit sind durch nichts zu entschuldigen. Nach seinem ersten WM-Triumph gegen Wladimir Klitschko wurde er kokainabhängig und depressiv. Insofern ist es ein besonders blöder Witz, wenn Fury auf die Frage, wie er seinen Sieg feiern würde, antwortet: „Mit ganz viel Koks und den billigsten Nutten von Las Vegas.“ Bleibt zu hoffen, dass er diese Ankündigung – anders als seine sportlichen Prognosen – nicht in die Tat umsetzt. Zweifel an seiner psychischen Stabilität bleiben.Doch nur wenn Fury seine Dämonen im Griff behält, kann es zum nächsten großen Schwergewichtskampf kommen. Da Joshua sein Rematch gegen Ruiz klar gewonnen hat, wäre der Showdown mit Fury der logische nächste Schritt. Dann könnten die WM-Gürtel aller vier großen Verbände (IBF, WBA, WBC und WBO) auf dem Spiel stehen, der Sieger dürfte sich unumstrittener Weltmeister nennen. Beide Seiten haben ihr Interesse signalisiert und den Kampf für Ende 2020 in Aussicht gestellt. Vorher muss Joshua noch eine Pflichtverteidigung absolvieren – und Fury darf nicht durchdrehen. Beides sind schwere, aber lösbare Aufgaben.
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