Proteste nach Mord an Stadträtin in Brasilien „Wir sind Marielle!“

„Ein Anschlag auf die Demokratie“: Zehntausende Brasilianer haben nach dem Mord an der linken Stadträtin Marielle Franco demonstriert. Die tödlichen Kugeln sollen aus Beständen der Polizei stammen.

Freitag, 16.03.2018  
19:35 Uhr

Die Demonstranten kamen aus allen Gegenden der Riesenstadt. Ein Trio junger schwarzer Frauen hatte sich mit Bus und Bahn aus dem Osten von São Paulo auf den Weg gemacht, wo die brasilianische Metropole in ein Meer von Favelas ausfranst. Eine Afrobrasilianerin aus Consolaçao, einem zentralen Viertel, hatte ihre Tochter und ihren Ehemann mitgebracht. Die Studentin Glaucia Quenia ging allein mit.

Sie alle waren spontan zur Kundgebung gekommen, und innerhalb weniger Stunden waren es Zehntausende. „Wir sind Marielle!“, skandierten sie. Manche weinten vor Wut, andere hatten ihre T-Shirts symbolisch mit roter Farbe beschmiert.

Am Mittwochabend waren die Stadtverordnete Marielle Franco, 38, und ihr Fahrer Anderson Pedro Gomes von einem Killerkommando auf offener Straße mitten in Rio de Janeiro ermordet worden. Überall im Land formierten sich daraufhin am Donnerstag spontan Demonstrations- und Trauerzüge. Die Menschen protestierten gegen Polizeigewalt und Rassismus, sie schrien ihre Wut heraus. Sie können den Tod dieser Frau nicht fassen, die alles verkörperte, was ihnen wichtig ist.

Franco war schwarz, sie war in einer Favela aufgewachsen, als Teenager war sie Mutter geworden, aber sie hatte den Aufstieg aus dem Elend geschafft. Sie studierte Soziologie. In ihrer Abschlussarbeit analysierte sie, wie die Regierung von Rio versuchte, die Favelas zu befrieden – und damit scheiterte.

Von der Aktivistin zur Lokalpolitikerin war es nur ein kleiner Schritt. Franco war eine geborene Führungsfigur, eine lebenslustige und streitbare Vorkämpferin gegen Rassismus und staatliche Gewalt.

Als sie ermordet wurde, kam sie von einem Treffen mit einer Gruppe afrobrasilianischer Frauen, die sie bei dem Aufbau sozialer Organisationen in den Favelas beriet. Bei der Kommunalwahl in Rio hatte sie das fünftbeste Ergebnis aller Stadträte erzielt, für die Linkspartei PSOL zog sie in das Parlament ein.

„Sie war eine von uns“, sagt die Studentin Quenia in São Paulo. „Mörder, Mörder!“, ruft sie mit den anderen, als sie an den Polizisten vorbeiziehen, die schweigsam am Wegesrand wachen. Sie fühlen sich ohnmächtig angesichts des Strudels der Gewalt, in dem ihr Land versinkt.

„Wir erleben gerade die Mexikanisierung Brasiliens“, glaubt der Kleinunternehmer André Lopes, 53, der sich mit einer Gruppe von Freunden spontan dem Protestzug angeschlossen hat. „Was für ein Land hinterlasse ich nur meinen Kindern?“

Mit dem Tod der jungen Frau hat die Gewalt im größten Land Südamerikas eine neue Eskalationsstufe erreicht. Auftragsmorde an Politikern und Aktivisten waren bislang eine Ausnahme. Jetzt droht eine ähnliche Entwicklung wie in Mexiko oder dem Kolumbien der Achtziger- und Neunzigerjahre, wo bewaffnete Gruppen einen Krieg gegen die Zivilgesellschaft und ihre Institutionen führten.

„Ein Anschlag auf die Demokratie“

Der Mord an Franco sei „ein Anschlag auf die Demokratie“, schreibt die Journalistin Flávia Oliveira in der Zeitung „O Globo“. Das Attentat soll Angst und Terror säen. Es zeigt, in welchem Ausmaß das organisierte Verbrechen Staat und Gesellschaft unterwandert hat.

Rio de Janeiro ist nur ein Schauplatz dieses schmutzigen Kriegs, der längst das ganze Land ergriffen hat. In allen Großstädten kämpfen kriminelle Organisationen um Macht und Einfluss. Was Rio von anderen Brennpunkten unterscheidet, ist das Ausmaß der Korruption in der Polizei.

Ganze Viertel im Westen und Norden der Stadt sind in der Hand bewaffneter Milizen, die oft mit den Sicherheitskräften agieren. Sie erpressen Schutzgelder von den Geschäftsleuten, kontrollieren den Handel mit Gasflaschen und versorgen die Anwohner der Favelas gegen Gebühr illegal mit Kabelfernsehen. Bei vielen Bewohnern sind die Milizen wohlgelitten, weil sie die gefürchteten Drogengangs vertrieben haben. Sie gehen diskreter vor als die Rauschgiftbanden, ihr Einfluss reicht bis in die lokalen Parlamente. Doch wenn sie ihre Pfründen bedroht sehen, wehren sie sich genauso brutal wie die Drogenbanden.

Noch ist nicht klar, wer für den Mord an der Stadträtin verantwortlich ist. Doch die professionelle Vorgehensweise der Killer deutet darauf hin, dass das organisierte Verbrechen den Anschlag befohlen hat.

Tödliche Schüsse aus zwei Meter Entfernung

Die Täter hatten die junge Frau offenbar ausgespäht und verfolgt, bevor sie zuschlugen. Sie wussten offenbar, dass sie auf der Rückbank des Autos saß und nicht auf dem Beifahrersitz wie sonst, obwohl die Scheiben verdunkelt waren. Aus zwei Meter Entfernung feuerten sie mit einer Pistole auf die Politikerin. Vier Schüsse trafen Franco in den Kopf, die anderen töteten ihren Fahrer. Ihre Assistentin, die neben ihr saß, wurde von den herumfliegenden Glassplittern verletzt.

Vor vier Wochen hatte Präsident Michel Temer das Militär an den Zuckerhut entsandt, nachdem die Sicherheitslage in der Millionenmetropole außer Kontrolle zu geraten schien. Es ist nicht das erste Mal, dass die Regierung die Streitkräfte zur Hilfe ruft. Doch nie zuvor hatte der Präsident den Offizieren so viel Macht übertragen. Ein General kommandiert jetzt den gesamten Sicherheitsapparat von Rio.

Wenn das Militär ernst macht, wäre das eine offene Kriegserklärung an die Milizen, die mit der Polizei verflochten sind. Die ermordete Stadträtin war gegen die Intervention der Streitkräfte; sie bezweifelte, dass es den Soldaten gelingen würde, die Gewalt in Rio zu reduzieren. Jetzt könnte der Widerstand in den Favelas gegen die Militarisierung der Verbrechensbekämpfung wachsen. Das würde den Milizen in die Hände spielen – und beweisen, dass nicht einmal die Armee in der Lage ist, den Vormarsch der Mafias zu stoppen.

Die Kugeln sollen aus dem Arsenal der Polizei stammen

Mit der Entsendung des Militärs wollte Temer sich im Volk einschmeicheln, die meisten Brasilianer unterstützen die Intervention. Die Kriminalitätsbekämpfung wird voraussichtlich das beherrschende Thema bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober sein. Doch Regierung und Militärs haben offenbar unterschätzt, wie komplex ihre Mission ist. Auftragsmorde an Unschuldigen lassen sich nicht mit Panzern verhindern.

„Die Banditen werden nicht unsere Zukunft zerstören, vorher werden wir die Banditen vernichten“, verkündete Temer nach dem Mord im Fernsehen. Alle Polizeiorganisationen und das Militär sollen bei der Aufklärung des Attentats zusammenarbeiten.

Womöglich müssen sie die Täter in den eigenen Reihen suchen. Am Freitag wurde bekannt, dass die Kugeln, die Marielle Franco töteten, aus dem Arsenal der Polizei stammen.

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