Abgehängte Regionen Was die Politik von der Boomstadt Jena lernen kann

Tut die Politik zu wenig für strukturschwache Regionen? Der Ökonom Oliver Holtemöller erklärt, warum neue Straßen und Schienen für den Osten keine Lösung sind – und was wirklich helfen könnte.

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Boomstadt Jena: Schwerpunktsetzung in der optischen Industrie, in der die Region traditionell schon stark war

Montag, 16.09.2019  
12:40 Uhr

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Die Ergebnisse der Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg haben die Diskussion um „gleichwertige Lebensverhältnisse“ neu befeuert: Tut die Politik zu wenig für strukturschwache Landstriche, nicht nur im Osten?

Oliver Holtemöller, 48, ist Forscher am Institut für Wirtschaftsforschung in Halle an der Saale. Er fürchtet, dass die Politik Milliarden für die falschen Maßnahmen ausgibt – und in der Bevölkerung falsche Erwartungen weckt.

SPIEGEL ONLINE: Herr Holtemöller, gibt es Regionen in Deutschland, die strukturschwach waren und einen wirtschaftlichen Aufholprozess geschafft haben?

Holtemöller: Jena und sein Umland sind ein klares Positivbeispiel: Vor 30 Jahren waren Einkommensniveau und Produktivität dort deutlich unterdurchschnittlich, heute liegen sie über dem Bundesschnitt.

SPIEGEL ONLINE: Und wo ist der Strukturwandel schiefgegangen?

Holtemöller: Das Projekt „Solar Valley“ in Sachsen-Anhalt zeigt, wie man es nicht machen sollte: Da wurde mit der Photovoltaik eine Technologie mit hohen Subventionen gefördert. Inzwischen ist viel davon verschwunden, weil die Panels im Ausland billiger produziert werden.

Zur Person

Britta Pedersen / DPA

Oliver Holtemöller, Jahrgang 1971, ist stellvertretender Präsident des Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung Halle (IWH). Dort leitet er die Abteilung Makroökonomik.

SPIEGEL ONLINE: Was kann man von Jena lernen?

Holtemöller: Es müssen verschiedene Faktoren zusammenkommen. In Jena war das eine Schwerpunktsetzung in der optischen Industrie, in der die Region traditionell schon stark war. Der Zeiss-Konzern hatte dort schon seinen Sitz, hinzu kam die Uni, die ebenfalls in der Optik Schwerpunkte setzt. Hinzu kommt eine seit langer Zeit in diesem Bereich spezialisierte Arbeiterschaft. So etwas hat tiefe gesellschaftliche Wurzeln.

SPIEGEL ONLINE: In der Politik wird wieder verstärkt über Investitionen in die Infrastruktur gesprochen, den Bau von Straßen, Schulen oder Bahntrassen. So etwas hilft doch fast immer, oder?

Holtemöller: Das war früher sinnvoll, als es noch darum ging, den Osten erst mal durch Infrastruktur-Investitionen zu ertüchtigen. Heute haben wir aber eine ganz andere Situation. Wir reden über Wirtschaftswachstum in einer fortgeschrittenen Volkswirtschaft und die Frage: Wie kann Innovation vor Ort stattfinden und wie können moderne Firmen organisch wachsen? Das können Sie nicht aus einer Hauptstadt heraus planen wie einen Autobahnbau.

SPIEGEL ONLINE: Die Politik kann aber doch Rahmen setzen und Voraussetzungen für Entwicklung schaffen.

Holtemöller: Das ist wichtig in Bereichen, in denen es der Markt nicht allein richtet: vor allem Bildung und Forschung. Da ist staatliche Unterstützung notwendig. Das zeigt sich auch in Ostdeutschland: Der Bildungsbereich ist dort – neben der demografischen Situation – das wichtigste Problem. Die meisten Ost-Regionen haben eine viel höhere Schulabbrecherquote als im Westen, Ost-Universitäten hatten auch viel weniger Erfolg bei der jüngsten Exzellenz-Initiative. Was da bislang getan wird, ist bei Weitem noch nicht ausreichend.

SPIEGEL ONLINE: Woran liegt das?

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Holtemöller: Die Politik müsste Humankapital stärker fördern. Aber wir sehen gerade bei der Diskussion um den Ausstieg aus der Braunkohle wieder: Da geht es immer noch vor allem um den Bau von Straßen und Schienen. Den Flaschenhals bilden aber nicht Straßen, sondern gut qualifizierte Menschen. An denen herrscht inzwischen Mangel.

SPIEGEL ONLINE: Die Politik hat jährlich Milliardensummen versprochen, um den Kohleregionen den Übergang erträglich zu machen.

Holtemöller: Schauen Sie sich die Lausitz an: Dort wird der industrielle Kern der Region wegfallen. Ich halte es für gefährlich, wenn die Politik den Menschen jetzt verspricht, es werde sich trotzdem alles prima entwickeln. Das wird zu Enttäuschungen führen. Hinzu kommt: In der Braunkohle arbeiten sehr gut qualifizierte Fachkräfte. Die Maschinenschlosser dort würden in Süddeutschland sofort mit Kusshand genommen.

SPIEGEL ONLINE: Geht es nicht auch darum, die Entvölkerung von ganzen Regionen zu verhindern?

Holtemöller: Ich kann den Impuls der Politik verstehen: Man will den Leuten Hoffnung geben und zeigen, es wird was getan, neue Jobs sollen entstehen, es gibt Perspektiven. Das kann an ein oder zwei Standorten vielleicht tatsächlich klappen. Aber es gibt einfach nicht besonders viele Beispiele für zentral geplante Maßnahmen, die sonderlich erfolgreich waren. Die Politik macht den Menschen falsche Hoffnungen. Man muss davon ausgehen, dass ein großer Teil der Betroffenen über kurz oder lang abwandern wird.

SPIEGEL ONLINE: Es geht doch nicht nur um den Wechsel von Arbeitsplätzen, sondern um den Erhalt von Heimat.

Holtemöller: Ich bin von Politikern deshalb schon heftig angegangen worden. Dabei sage ich ja nicht, dass die Leute wegziehen sollen. Ich mache keine normative Aussage. Ich beschreibe nur, was wir erwarten sollten. Man muss Migration und Demografie mitdenken. Die Politik geht in der öffentlichen Debatte immer davon aus, dass wir durch Infrastrukturförderung die heutigen Beschäftigtenzahlen erhalten. Durch den beschleunigten Braunkohleausstieg fallen bis 2038 im Mitteldeutschen Revier 900 Arbeitsplätze weg, verglichen mit einem Szenario ohne die zusätzlichen Beschlüsse. Im gleichen Zeitraum sinkt aber auch die Anzahl der Arbeitskräfte aus Altersgründen um ein Vielfaches davon.

SPIEGEL ONLINE: Was sollte die Politik also anders machen?

Holtemöller: Sie muss verstehen, dass es nicht das eine Wunderinstrument gibt. An der Analyse der lokalen Stärken führt nichts vorbei. Das wird immer noch viel zu selten praktiziert. Stattdessen herrscht oft die Vorstellung, dass von einer Zentrale einfach ein Batzen Geld kommt und dann wird das schon werden. Die Entwicklung muss aber viel stärker aus den Regionen selbst kommen.

SPIEGEL ONLINE: Würde eine solche Analyse nicht fast zwangsläufig bitter ausfallen? Der Osten hat doch vor allem Anfang der Neunzigerjahre massiv an Industrie verloren.

Holtemöller: Die Welt entwickelt sich überall weiter, damit haben auch Firmen im Westen zu kämpfen. Die sehen heute auch ganz anders aus als vor 30 Jahren. In ganz Deutschland gibt es einen tiefgreifenden Wandel der Beschäftigung. Das Jobwachstum findet seit 2005 praktisch nur noch im Dienstleistungsbereich statt, in der verarbeitenden Industrie wird es in der Summe überall weniger.

SPIEGEL ONLINE: Was ist dann das spezifische Problem Ostdeutschlands?

Holtemöller: Es ist jedenfalls nicht die Strukturschwäche. Die strukturschwächste deutsche Region ist die Südwestpfalz. Ostdeutschlands Problem ist das Fehlen regionaler Lokomotiven. Die Wirtschaftskraft vieler Landkreise ist heute wie in vergleichbaren Regionen im Westen. Bei den Städten hingegen gibt es hingegen nach wie vor große Unterschiede. Jena beispielsweise ist zwar durchaus erfolgreich, liegt aber bei der Wirtschaftskraft je Erwerbstätigen weit hinter Koblenz, einer Stadt mit etwa gleicher Einwohnerzahl.

SPIEGEL ONLINE: Woher kommt das?

Holtemöller: In den westdeutschen Städten wachsen Firmen im Dienstleistungsbereich stark, während man sich im Osten sehr lange um die Industrie gekümmert hat. Im Osten werden tendenziell geringerwertige Tätigkeiten ausgeübt, die sind häufiger eher ausführender Natur. Es wird mehr ungelerntes Personal eingesetzt. Im Westen hingegen finden sie mehr leitende Tätigkeiten, ein höheres Qualifikationsniveau der eingesetzten Arbeitskräfte.

SPIEGEL ONLINE: Können „gleichwertige Lebensverhältnisse“ überall in Deutschland noch erreicht werden?

Holtemöller: Dieses Ziel steht im Grundgesetz und ich stelle nicht die Verfassung infrage. Aber wie interpretiert man „gleichwertige Lebensverhältnisse“? Unterschiede in der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit von Regionen beobachten wir in Deutschland schon lange. Die Wirtschaftskraft etwa Mecklenburg-Vorpommerns ist nicht nur in der Bundesrepublik unterdurchschnittlich, sie war es auch schon im 19. Jahrhundert und vor DDR-Zeiten. Mir fehlt die Fantasie, wie wirtschaftspolitische Maßnahmen kurzfristig etwas an diesen langfristigen Mustern ändern sollen. Auf der anderen Seite sind die preisbereinigten verfügbaren Haushaltseinkommen aufgrund der vielfältigen Transfers deutlich gleicher verteilt. Da kommen wir den gleichwertigen Lebensverhältnissen schon recht nahe.

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