Outdoor-Firma Patagonia „Wir richten definitiv weniger Schaden an als früher“

Vincent Stanley ist Vordenker beim Outdoor-Konzern Patagonia, der sich konsumkritisch gibt – und damit Konsumprodukte verkauft. Ein Gespräch über Unternehmenswachstum auf schmalem Grat.

Patagoina Provisions
Ein Mitarbeiter der Worn-Wear-Initiative von Patagonia repariert eine Jacke

Samstag, 04.01.2020  
16:54 Uhr

Ein Laden des Outdoor-Herstellers Patagonia in Berlin-Mitte: Jacken, Hosen und Kapuzenpullover leuchten in Pink, Apfelgrün und Blau. Fast übersieht man einen älteren Mann mit hellgrauen Haaren, nachdenklichem Blick, bedächtigen Bewegungen: Vincent Stanley,
Patagonias Geschichtenerzähler.

Für einen Sommerjob kam Stanley 1973 als Zwanzigjähriger zu der gerade gegründeten Firma seines Cousins Yvon Chouinard- und blieb Patagonia sein Leben lang verbunden. Er arbeitete als Verkaufsmanager, trieb konsumkritische Kampagnen und Aktionen gegen Staudämme voran, half die Patagonia-Lieferkette aufzuräumen und zog Reparaturzentren hoch. Sein Hobby aber war immer das Schreiben, wie das Buch
„The Responsible Company“, das er mit Chouinard zusammen schrieb.

Nach Berlin ist Stanley gekommen, um einen Vortrag über die „Evolution des Kapitalismus“ zu halten. Wir setzen uns an einen Verkaufstisch voller Fleecejacken, Mützen und Hosen.

SPIEGEL: Herr Stanley, Sie haben in einem Interview mal laut überlegt, ob es besser wäre, die Firma Patagonia zu schließen, „weil alles, was wir tun, bei der Natur Schaden anrichtet“. Ist das die Zukunft des Kapitalismus? Alles einstampfen?

Stanley: Nein. Und heute würde ich diese Frage auch so nicht mehr stellen. Denn wir haben viel verbessert. Wir richten definitiv weniger Schaden an als früher.

Zur Person

Vincent Stanley, 65, arbeitet für Patagonia seit dessen Gründung 1973. Der „Director of Philosophy“ interessiert sich eher für Bücher als fürs Klettern oder Campen: Mit Firmengründer Yvon Chouinard, seinem Cousin, schrieb er „The Responsible Company“ und entwickelte die „Footprint Chronicles“ zum Fußabdruck aller Patagonia-Produkte. Stanley unterrichtet am Yale Center for Business and Environment.

SPIEGEL: Was machen Sie denn, um Ihren Schaden zu reduzieren?

STANLEY: Schon 1996 haben wir auf Biobaumwolle umgestellt. Bereits seit 25 Jahren arbeiten wir mit Polyester mit Recyclinganteil – lange vor allen anderen. Und bis 2025 wollen wir komplett CO2-neutral sein: Der mit Abstand größte Hebel dafür, etwa 85 Prozent, liegt in den Fasern selber. Deshalb wollen wir bis 2025 überhaupt kein neues Erdöl für unsere Fasern mehr verwenden, sondern nur noch Recyclingpolyester und biobasiertes Nylon. Für eine ganze Weile werden wir aber noch CO2-Zertifikate kaufen, um klimaneutral zu werden.

SPIEGEL: Das klingt alles gut und richtig, andere Firmen machen das inzwischen auch. Aber Patagonias Mission „We’re in business to save our home planet“ (Wir sind im Geschäft, um unseren Heimatplaneten zu retten) geht deutlich weiter. Ist weniger Schaden gut genug? Reicht das, um den Planeten zu retten?

STANLEY: Nein – unser großes Ziel ist deshalb auch ‚carbon positive‘, also eine positive CO2-Bilanz zu haben. Und deshalb expandieren wir jetzt in den Bereich der regenerativen biologischen Landwirtschaft. Weil wir überzeugt sind, dass wir nur so einen positiven Beitrag für den Planeten leisten können. Das ist dann sogar besser, als den ganzen Laden dicht zu machen.

SPIEGEL: Die Outdoor-Firma Patagonia produziert jetzt Lebensmittel? Verwandeln Sie sie in einen Ökobauernhof, um den Schaden durch die Klamottenproduktion auszugleichen?

STANLEY: Über unsere Firma Patagonia Provisions brauen wir jetzt sogar Bier, das nebenbei die Great Plains (Große Ebenen) in Nordamerika wiederherstellt. Früher war dort der Oberboden sechs Meter dick, jetzt sind es durch die industrielle Landwirtschaft nur noch 30 bis 40 Zentimeter. Die Idee mit dem Bier kam so: Wir kannten diesen Agronomen, der ein mehrjähriges Weizengras mit sechs Meter tiefen Wurzeln entwickelt hatte. Die brechen den Boden auf, was die perfekte Atmosphäre für Mikroben und Pilze schafft – und den Boden aufbaut. Das fanden wir so gut, dass wir es anbauen wollten – aber wir konnten es nicht kaufen, weil der Agronom bisher keinen Markt dafür gefunden hatte. Also haben wir eine Partnerschaft mit einer Brauerei in Portland geschlossen – und machen seitdem Bier daraus.

„Unsere Kunden sollen nachdenken“

SPIEGEL: Und wo werden die Lebensmittel verkauft? In Patagonia-Supermärkten?

STANLEY: Nein, in unseren Kleidungsgeschäften gibt es einen Bereich, wo wir zum Beispiel Lachs oder Muscheln in der Konserve verkaufen, aber auch Müsli, Körner-Frucht-Riegel oder Honig. Allerdings bislang nur in den USA und Japan, Europa soll später dazukommen.

SPIEGEL: Eine der Kernbotschaften von Patagonia ist, kaum Wachstum anzustreben. Kann ein Unternehmen dabei florieren?

STANLEY: Das ist eine schwierige Frage. Wir haben durchaus Wachstumsziele – wir geben eine Marge vor, damit wir kein Geld verlieren, wir haben ein Verkaufsziel, damit wir verkaufen, was wir produzieren – wie bei konventionellen Unternehmen auch. Aber die Art, wie wir wachsen, ist uns genauso wichtig wie die Wachstumsrate. Ein Beispiel: Wir schalten kaum Werbung. Unser Umsatzwachstum beruht vor allem auf Mund-zu-Mund-Propaganda, was wir als eine Art natürliches Wachstum ansehen. In den vergangenen zehn Jahren war dieses organische Wachstum ziemlich stark. Jetzt ist die Kurve abgeflacht, wir wachsen deutlich langsamer- was wir gut finden. Denn es ist sehr schwierig, unter Zeitdruck immer mehr zu produzieren und dabei die hohen Produktionsstandards in der Lieferkette zu erfüllen.

SPIEGEL: Aber Patagonia wächst, sogar stärker als der Durchschnitt der Outdoor-Branche. Und seit 2008 sollen sich Ihre Gewinne verdreifacht haben. Stimmt das?

STANLEY: Ja, aber das liegt vor allem daran, dass wir unseren Einkauf straffer organisiert haben: Unsere Inventur ist viel effizienter geworden, wir haben besser eingekauft, unsere Produkte sind seltener ausverkauft. Heute können wir die Nachfrage viel besser decken. Und das hat sich positiv auf das Ergebnis ausgewirkt.

SPIEGEL: Ist Wachstum nun eine gute oder eine schlechte Sache?

STANLEY: Das hängt von Art und Zweck des Wachstums ab. Wir ermutigen unsere Kunden, vor dem Kauf nachzudenken. Sich zu fragen, ob sie die Jacke, Schuhe oder Hose wirklich brauchen. Das war auch der Gedanke der berühmten „Don’t buy this jacket“-Anzeige, die wir zum Black Friday 2011 in der „New York Times“ veröffentlicht haben. Denn noch hat jedes Produkt eine negative Umweltbilanz. Und damit die Leute weniger Neues kaufen, reparieren wir: In jedem Laden, auch hier (er zeigt auf eine Ecke, in der eine Nähmaschine steht und ein Kleiderbügel mit reparierten Klamotten) kann man seine kaputte Kleidung reparieren lassen, egal welcher Marke. In den USA betreiben wir mit 40 Vollzeitangestellten das größte Reparaturzentrum Nordamerikas. Und damit aussortierte Sachen weiter genutzt werden, haben wir die „WornWear“- Plattform aufgebaut, wo Kunden in den USA ihre Patagonia-Sachen weiterverkaufen können. Wir arbeiten also an mehreren Fronten, um einen Wandel der Verbraucher zu fördern.

SPIEGEL: Verdienen Sie mit Ihrem Secondhand-Geschäft Geld?

STANLEY: „Worn Wear“ ist noch ein kleiner Teil unseres Geschäfts, welches wir aber sehr wichtig finden, weil so Patagonia-Kleidung auch zu günstigeren Preisen zugänglich ist, ohne dass wir die Umwelt- und Arbeitsstandards senken mussten.

„Don’t buy this jacket“ – ein Verkaufsschlager?

SPIEGEL: Noch einmal zurück zu Ihrer berühmten „Don’t buy this jacket“-Anzeige: Danach ist Ihr Umsatz offenbar um 30 Prozent gestiegen. Und ein paar Jahre später, als Patagonia kurz nach der Trump-Wahl alle Black-Friday-Umsätze an ökologische Basisbewegungen spenden wollte, haben Sie statt der angenommenen zwei Millionen zehn Millionen Euro Umsatz gemacht. Ist das alles nur sehr, sehr cleveres Marketing?

STANLEY: Nein. Das war sogar sehr riskantes Marketing. Aber wir haben vorher überlegt, wie wir den Erfolg dieser Anzeige messen sollten. Und haben gesagt: Wenn der Absatz dieser Jacke steigt, sind wir im Greenwashing-Modus – das ist nicht gut. Aber wenn er fällt, sind wir Märtyrer – auch nicht gut. Aber wenn die Zahlen nach drei Wochen wieder gleich sind – und das waren sie -, dann haben wir unsere Arbeit getan. Weil wir dann auf die eigentlichen Probleme hinter dem Produkt aufmerksam gemacht haben.

SPIEGEL: Patagonia setzt auf langlebige Kleidung. Während der Trend in der Industrie eher zu kurzlebigen Sachen geht, damit man häufiger nachkaufen muss. Ist Langlebigkeit trotzdem ein Geschäftsmodell?

STANLEY: Wenn Sie eine Jacke herstellen, die zehn oder 15 Jahre hält, gewinnen Sie die Loyalität von Menschen, die gut verarbeitete Produkte schätzen. Bei uns zahlt sich das aus: Wir haben sehr viele Stammkunden, die im Laufe der Zeit auch andere Produkte bei uns kaufen.

Attacke von Greenpeace und „Vier Pfoten“

SPIEGEL: Trotzdem haben in den letzten zehn, fünfzehn Jahren NGOs wie „Vier Pfoten“ oder Greenpeace Patagonia immer wieder attackiert – weil Sie Federn von zwangsernährten Gänsen oder giftige Chemikalien in der Produktion verwendeten. Was haben Sie getan, um Ihre Lieferkette sauberer zu machen?

STANLEY: Der Hinweis der Tierschützer von Vier Pfoten war interessant – wir wussten tatsächlich nicht, dass die Daunen von Gänsen stammten, die für die Gänsestopfleber zwangsernährt wurden. Seitdem haben wir uns Durchblick durch unsere Lieferkette verschafft, sie ist nun komplett rückverfolgbar. Was ziemlich kompliziert war, weil die Gänse von vier verschiedenen Farmen kamen und dann woanders geschlachtet wurden.

SPIEGEL: Und die giftigen Chemikalien?

STANLEY: Das ist eine unserer größten ökologischen Herausforderungen. Es geht bei uns vor allem um die PFCs – die Chemikalien, die das Gewebe wasser- und schmutzabweisend machen, während es trotzdem atmungsaktiv bleibt. Inzwischen nutzen wir nur noch die weniger schädlichen – und legalen PFCs. Und arbeiten für alle Chemikalien und Prozesse mit Prüfunternehmen wie Bluesign aus der Schweiz zusammen.

SPIEGEL: Patagonia bezeichnet sich selbst als Aktivistenfirma. Was ist das?

STANLEY: Das ist unser Selbstverständnis: Als Organisation von Aktivisten, die den Umweltschutz unterstützt. Jedes Jahr spenden wir ein Prozent unseres Umsatzes an Umweltbewegungen. Also: Keine großen NGOs wie Greenpeace, sondern Aktivistengruppen mit sehr wenigen Angestellten und sehr vielen Freiwilligen. Alle ein, zwei Jahre machen wir neue Kampagnen, etwa gegen Staudämme, Meeresverschmutzung oder für Wildtierkorridore.

SPIEGEL: Und Sie haben auch die Trump-Regierung verklagt.

STANLEY: Ja, in letzter Zeit sind wir noch politischer geworden. Trump hat mehrere Naturschutzgebiete radikal verkleinert und für den Bergbau geöffnet – dagegen klagen wir. Und meine Frau und ich – und alle Patagonia-Angestellten – sind überall auf der Welt mit der Fridays for Future-Bewegung auf die Straße gegangen.

SPIEGEL: Manchmal wirkt es, als wohnten, um mit Goethes Faust zu sprechen, ‚zwei Seelen in Patagonias Brust‘. Als wäre Patagonia eine Firma wider Willen. Wären Sie nicht lieber eine NGO?

STANLEY: Es gibt eine Geschichte aus den Achtzigerjahren, die das ganz gut erklärt: Wir wuchsen ziemlich schnell und ohne Plan, ohne große Idee dahinter. Deswegen ging unser Gründer Yvon Chouinard zu einem Berater – das war eher so ein Hippie, der auf einer Yacht vor Miami lebte und bekannt war für mutige Ideen. Dieser Typ fragte Yvon: Warum bist Du überhaupt in der Wirtschaft? Worauf Yvon sagte: Weil ich Geld für die Umwelt geben will. Und der Berater antwortete: Dann solltest Du deine Firma besser verkaufen, eine Stiftung gründen und dein Geld der Umwelt schenken. Yvon hat lange darüber nachgedacht. Und schließlich gesagt: Warum ich wirklich in der Wirtschaft bin: Ich will die Dinge anders machen. Ich will beweisen, dass Unternehmertum und Umweltschutz kein Widerspruch sein müssen. Seitdem sind wir viele unternehmerische Risiken eingegangen – und wissen heute, dass sie gar kein großes Risiko sind, wenn man sie richtig macht. Sondern sogar auch gut für’s Geschäft sein können. Genau das treibt uns seitdem an: Wir wollen anderen Unternehmen ein Vorbild sein.

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