Ägypten: US-Bürger Mustafa Kassem stirbt in Haft – DER SPIEGEL – Politik

Tagelang hatte sich kein Spitzenvertreter der US-Regierung geäußert. Nun aber, am Rande der Libyen-Konferenz in Berlin, traf Außenminister Mike Pompeo den ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah el-Sisi. Pompeo, so teilt es sein Ministerium mit, habe dabei seine „Empörung über den sinnlosen und tragischen Tod“ des amerikanischen Staatsbürgers Mustafa Kassem zum Ausdruck gebracht.

Kassem, ein 54-jähriger Autoteilehändler aus dem Großraum New York, starb am vergangenen Montag in Kairo an Herzversagen. Er hatte mehr als sechs Jahre in ägyptischer Haft verbracht.Der demokratische Senator Patrick Leahy spricht von Totschlag. Kassem sei unschuldig gewesen, der Freiheitsentzug widerrechtlich. „Präsident Sisi ist persönlich verantwortlich und muss zur Rechenschaft gezogen werden“, so Leahy. Der Fall Kassem wirft ein Licht auf die desolate Menschenrechtslage in Ägypten unter Sisi ebenso wie auf den Umgang der US-Regierung mit der Führung in Kairo – zunächst unter Barack Obama, anschließend unter Donald Trump.

Sechseinhalb Jahre nach dem Militärputsch, der ihn in Ägypten an die Macht brachte, steht Sisi einem Regime vor, das Menschenrechtlern als das autoritärste in Ägyptens moderner Geschichte gilt. Zehntausende Aktivisten, Journalisten und politische Gegner wurden in den vergangenen Jahren eingesperrt. Kulturschaffende werden drangsaliert. Selbst vorsichtige Kritik an der Regierung kann Menschen ins Gefängnis bringen. Aktivisten berichten von außergerichtlichen Tötungen und Folter.Mustafa Kassem wurde am 14. August 2013 festgenommen: ebenjenem Tag, an dem sich Ägyptens spätere Entwicklung hin zu immer mehr Autoritarismus erstmals ganz deutlich abzeichnete.

Wochen zuvor hatte das Militär den damaligen Präsidenten Mohammed Mursi nach Massenprotesten gegen dessen antidemokratische Bestrebungen abgesetzt und festgenommen. In der Folge zogen dessen Anhänger fast täglich auf die Straße; es kam zu blutigen Zusammenstößen mit Mursi-Gegnern und der Armee. Am 14. August schließlich stürmten Sicherheitskräfte ein Protestlager der Muslimbrüder und anderer Unterstützer des gestürzten Präsidenten auf dem Rabaa-Platz in der Hauptstadt. Sie töteten mindestens 800 Menschen. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) stuft das Massaker von Rabaa als „eine der größten Massentötungen von Demonstranten an einem einzigen Tag in der jüngeren Geschichte“ ein.

„Wir waren nicht politisch engagiert“Viel spricht dafür, dass Kassem nicht an den politischen Umwälzungen beteiligt war, sondern sich an diesem Tag wohl schlicht am falschen Ort aufhielt. Der Vater von zwei Kindern, der schon Jahre zuvor nach New York ausgewandert war und neben der amerikanischen auch die ägyptische Staatsbürgerschaft besaß, besuchte Verwandte in seiner Geburtsstadt Kairo. Trotz der Unruhen im Land hätten sie sich für die Reise entschieden, schrieb Kassems Schwager Mustafa Ahmed Ende 2018 in einem Gastbeitrag für die „New York Times“. „Wir waren nicht politisch engagiert.“ Der Besuch sei eine reine Familienangelegenheit gewesen.Kassems Schwager, der ihn an diesem Tag begleitete, und die Freedom Initiative, eine Washingtoner NGO, die sich für politische Gefangene in Ägypten einsetzt, schildern seine Festnahme wie folgt: Kassem habe ein Einkaufszentrum in der Nähe des Rabaa-Platzes aufgesucht, um Geld zu wechseln. Eine Gruppe von Soldaten habe ihn angehalten und seinen Ausweis verlangt. In der Überzeugung, dass seine US-Staatsbürgerschaft ihn schützen würde, zückte Kassem demnach seinen blauen Pass – was die Soldaten aber nur wütend machte: Sie warfen ihm Spionage vor, schlugen und traten auf ihn ein.Statt wie geplant wenige Tage später nach New York zurückzukehren, verbrachte Kassem mehr als fünf Jahre in Haft, ehe ein Urteil in seinem Fall gesprochen wurde. Mohammed Soltan, Gründer der Freedom Initiative, lernte den New Yorker im Tora-Gefängnis in Kairo kennen, in dem auch der inzwischen verstorbene Mursi saß und über das ein früherer Wachmann gegenüber Human Rights Watch sagte: „Alles ist darauf ausgelegt, dass jene, die dort einsitzen, nur noch tot herauskommen.“ Laut Soltans Organisation hatte Kassem, der an Diabetes litt und herzkrank war, nicht in ausreichendem Maß Zugang zu Medikamenten und ärztlicher Behandlung.

In den USA machten sich Vertreter beider Parteien für Kassem stark. Der inzwischen verstorbene republikanische Senator John McCain appellierte an Trump, er möge sich gegenüber Sisi für eine Freilassung einsetzen. Bei einem Besuch in Kairo im Januar 2018 sprach Vizepräsident Mike Pence den ägyptischen Machthaber offenbar auf Kassem an. Sisi habe ihm versichert, der Sache „sehr ernsthafte Aufmerksamkeit“ zu schenken, teilte Pence anschließend mit.Dennoch wurde Kassem im September 2018 des Umsturzversuchs schuldig gesprochen und zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Der Massenprozess mit mehr als 700 Angeklagten genügte nach Ansicht von Menschenrechtsorganisationen grundlegendsten rechtsstaatlichen Anforderungen nicht. Laut Freedom Initiative wurden keinerlei individuelle Beweise gegen Kassem vorgebracht.Die ägyptische Botschaft in Berlin verwies auf SPIEGEL-Anfrage auf eine Stellungnahme des ägyptischen Innenministeriums. Kassem sei vor einem gesetzlichen Richter die Beteiligung an „Terrorakten“ nachgewiesen worden, heißt es darin, „darunter das Niederbrennen von Eigentum und versuchter Mord“. Während der Haft sei er umfassend medizinisch versorgt worden. Auch habe man ihn auf die Gefahren hingewiesen, die mit dem Hungerstreik verbunden waren, in den er am Tag seiner Verurteilung trat.“Mein Lieblingsdiktator“Die Trump-Regierung hat in der Vergangenheit die Freilassung zweier US-Bürger aus ägyptischen Gefängnissen erwirkt. In einem Fall rühmte der Präsident sich dafür, etwas erreicht zu haben, was sein Vorgänger Barack Obama drei Jahre lang versucht, aber nicht geschafft hätte. Im Fall Kassem aber scheiterte auch Trump. Weshalb genau, ist unklar; große Teile der Verhandlungen in solchen Fällen bleiben häufig geheim.Anders als sein Vorgänger, muss sich Trump nach dem Tod Kassems aber vorhalten lassen, sämtliche Bemühungen um Freilassungen durch einen generellen Kuschelkurs gegenüber Sisi zu unterlaufen. Zwar hatte sich auch die Obama-Regierung letztlich mit der Machtübernahme durch das Militär abgefunden. Dennoch lud Obama Sisi wegen der Menschenrechtsverstöße in Ägypten nie ins Weiße Haus ein.Ähnliche Vorbehalte hat Trump nicht. Der Präsident empfing Sisi nicht nur im Weißen Haus, er nannte ihn gar seinen „Lieblingsdiktator“. Während eines Besuchs im Nahen Osten im Mai 2017 machte Trump deutlich, dass er von seinen Partnern in der Region vor allem ein härteres Vorgehen gegen Islamisten erwartet, Menschenrechte hingegen keine Priorität haben. In den Monaten darauf meldeten Aktivisten eine Zunahme außergerichtlicher Tötungen in Ägypten.

Derzeit sitzen mindestens sechs US-Bürger in ägyptischen Gefängnissen. Dennoch bekommt Ägypten mehr als 1,3 Milliarden Dollar an US-Militärhilfe – so viel wie kein anderer Staat außer Israel. Kongressabgeordnete drängen die Trump-Regierung nun, die Hilfszahlungen als Druckmittel einzusetzen.Mustafa Kassem konnten am Ende weder die Bemühungen der Obama- noch die der Trump-Regierung helfen. Er hörte schließlich auf, Flüssigkeit zu sich zu nehmen. Vier Tage später starb er im Krankenhaus.
Icon: Der Spiegel

Quelle