Heiko Maas über Antisemitismus und Judenhass – Gastbeitrag – DER SPIEGEL – Politik

„Halle war mein Zuhause.“ Dieser Satz gehört zu den traurigsten, die ich seit langer Zeit gehört habe. Er stammt von Max Privorozki, dem Vorsteher der jüdischen Gemeinde von Halle, die im Oktober nur knapp einem Massaker entging. Aus ihm spricht die ganze Verzweiflung darüber, dass Antisemitismus heute wieder Alltag ist für Jüdinnen und Juden in Deutschland. Täglich werden sie auf unseren Straßen offen angegriffen oder im Internet bedroht und beschimpft. Allein in Berlin gab es in sechs Monaten mehr als 400 solcher Übergriffe – mehr als zwei pro Tag. Angesichts solcher Zahlen überrascht es mich nicht, dass fast jeder zweite Jude in Deutschland schon darüber nachgedacht hat, das Land zu verlassen. Schmerzen tut es umso mehr. Wir müssen dringend gegensteuern, damit aus solchen Gedanken nicht bittere Realität wird und es zum massiven Wegzug von Jüdinnen und Juden aus Deutschland kommt. Dass sich Menschen jüdischen Glaubens bei uns nicht mehr zu Hause fühlen, ist ein einziger Albtraum – und eine Schande, 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz.

Worte reichen schon lange nicht mehr. In Halle war es nur eine Holztür, die Dutzende Menschenleben gerettet hat. Wir müssen jüdische Einrichtungen und Gemeinden besser sichern – nicht nur in Deutschland, sondern überall in Europa. Konkret werden wir der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa dafür in diesem Jahr eine halbe Million Euro zur Verfügung stellen.

Doch damit ist es natürlich nicht getan. Täter wie der von Halle sind international vernetzt, sie radikalisieren sich im Internet, über Grenzen hinweg. Und egal, ob sich die Attacken gegen ein jüdisches Museum in Brüssel, einen koscheren Supermarkt in Paris oder eine Synagoge in Deutschland richten – jeder Angriff auf jüdisches Leben ist ein Angriff auf Europa, auf unsere Kultur und unsere Werte. Denn Antisemitismus widerspricht allem, wofür Europa steht: Toleranz, Freiheit, Menschenwürde.

Wir Deutschen sind nicht nur aufgrund unserer Geschichte besonders gefordert: Im Sommer beginnt unsere Ratspräsidentschaft der Europäischen Union, im November unser Vorsitz im Europarat. Und bereits in wenigen Wochen übernehmen wir erstmals die Leitung der Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken. Der Kampf gegen Antisemitismus gehört in all diesen Institutionen ganz oben auf die Agenda.Alle EU-Mitgliedstaaten haben sich vor gut einem Jahr verpflichtet, Strategien gegen Antisemitismus zu entwickeln. Gerade Deutschland muss hier vorangehen. Zu wenige Mitgliedstaaten haben nationale Beauftragte zum Kampf gegen Antisemitismus. Das muss sich ändern. Wir brauchen ein Europäisches Netzwerk aus Beauftragten aller Mitgliedstaaten, die den Kampf gegen Antisemitismus in einem Europäischen Aktionsplan bündeln. Strafverfolgung und ein besserer Schutz jüdischer Einrichtungen gehören genauso dazu wie Bildungs- und Integrationsmaßnahmen.Nicht erst seit Halle wissen wir: Auf rohe Worte folgen irgendwann brutale Taten. Wir müssen dort ansetzen, wo Hass und Hetze immer krassere Formen annehmen: im Internet und den sozialen Medien. Während unserer EU-Präsidentschaft werden wir den Kampf gegen Hasskriminalität und Desinformationskampagnen im Netz intensivieren. Auch wer online hetzt, muss überall in Europa die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekommen.Niemand darf das Menschheitsverbrechen des Holocaust leugnen oder verharmlosen. Das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte vor wenigen Wochen noch einmal klargestellt. Wir setzen uns dafür ein, dass alle EU-Mitgliedstaaten endlich ihre Verpflichtung umsetzen, die Leugnung des Holocaust unter Strafe zu stellen.Und auch weltweit wollen wir den gefährlichen Lügen über den Holocaust und der Verdrehung von Fakten etwas entgegensetzen. Dazu werden wir noch dieses Jahr ein internationales Expertennetzwerk gründen, das Gegenstrategien entwickelt – eine Globale Taskforce gegen Holocaust-Leugnung.Ein Drittel der jungen Europäerinnen und Europäer gibt an, wenig oder gar nichts über den Holocaust zu wissen. Unter jungen Deutschen sind es sogar noch mehr. Die Erinnerung an den millionenfachen Mord droht zu verblassen, auch weil leider immer weniger Überlebende davon berichten können. Deshalb wird Bildungsarbeit über den Holocaust immer wichtiger – analog wie digital, von der Grundschule bis zur Universität. In unseren Auslandsschulen gehen wir dabei voran. Auch die Bundeszentrale für Politische Bildung sollte mit ihren europäischen Pendants zusammenkommen, um gemeinsame Leitlinien für Bildung und Aufklärung über den Holocaust zu entwickeln.
Politik muss entschlossener handeln und mehr bewegen im Kampf gegen Antisemitismus. Eins aber kann sie nicht: Die Solidarität im Alltag ersetzen. Sie entsteht nur, wenn jede und jeder von uns Farbe bekennt gegen Antisemitismus: auf der Straße, auf dem Schulhof, im Internet. Erst dadurch werden wir Menschen wie Max Privorozki überzeugen, dass Deutschland und Europa ihr Zuhause sind und bleiben. Dass Jüdinnen und Juden hier hergehören, als Mitglieder unserer Gesellschaft. Und dass wir es ernst meinen, wenn wir in diesen Tagen, 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz, sagen: nie wieder!
Icon: Der Spiegel

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