„Manche meldeten sich irgendwann gar nicht mehr“ – DER SPIEGEL – Familie

Als ihr Mann starb, war Kathrin Holzapfel 35 Jahre alt und ab diesem Moment allein mit zwei Kindern. Janna* war ein Jahr alt, Max* war vier. 22 Monate lang hatte der Vater der Familie gegen den Tumor in seinem Kopf gekämpft – ein Glioblastom, das in seinem Sprach- und Bewegungszentrum saß. Medikamente, Bestrahlungen, Chemotherapien, nichts half.

Am 29. Dezember 2017 kam der Tod in die Familie, so formuliert Kathrin Holzapfel es heute. Wie lebt es sich weiter, wenn eine Frau ihren Mann und zwei Kinder ihren Vater verlieren? In dieser Reihe erzählt Kathrin Holzapfel davon. Diesmal beschreibt sie, wie es ihr ging, als keiner mehr eine Antwort hören wollte auf die Frage: Wie geht es dir?Was die meisten Menschen denken, die mich nicht kennen: Oh je, eine Frau, die ihren Mann verloren hat! Die muss ja unglaublich alleine sein! Muss die nicht ständig heulen?Die Wahrheit ist: Die Momente, in denen ich alleine bin, gehören zu den besten. Wenn die Kinder im Bett sind und es ruhig wird in der Wohnung, dann setze ich mich aufs Sofa und genieße es, den Tag geschafft zu haben. Ich weine nicht. Ich lenke mich ab. Ich lehne mich zurück, Handy in der Hand, überall mal scrollen, im Hintergrund läuft der Fernseher. Meistens schlafe ich ein.

Einsam bin ich nicht zu Hause, sondern wenn ich unter Leuten bin. Unter Freundinnen, die Kinder haben, deren Väter noch leben. Wenn ich mich mit ihnen treffe und ihr Familienleben betrachte, in dem es helfende und liebende Männer gibt. Dann fehlt mir meiner.Es gab nie die eine Freundin, der ich alles erzählt habe. Wir waren immer eine Gruppe von Freunden. Ein paar Familien, die sich gut verstanden haben. Mein Mann mit den Männern, ich mit den Frauen, die Kinder untereinander. Einmal im Monat war Mädelsabend. Wir gingen ins Kino, was trinken oder trafen uns in Wohnzimmern.

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Kathrin Holzapfel und ihr Mann während einer Party 2015: Bestrahlungen, Chemotherapien, nichts half
privat

Dann kam der Krebs. Mein Mann ging offen mit der Diagnose um und zog sich in den 22 Monaten Krankheit nicht zurück. Unsere Freunde waren unglaublich in dieser Zeit, sie kamen ständig vorbei, mit Essen, Karten, Überraschungen. Unmittelbar nach seinem Tod organisierte eine Freundin eine Spendenaktion und postete sie auf Instagram. Auch andere Freunde sammelten Geld, damit wir uns eine Auszeit nehmen konnten.

Doch wenn jemand stirbt, ist er für Menschen, die nicht jeden Tag neben ihm aufgewacht sind, schnell nicht mehr präsent. Ich habe das Gefühl, dass das Interesse unserer Freunde an unserer Situation nachließ, je länger mein Mann tot war. Vielleicht dachten meine Freunde genauso viel an ihn wie ich, aber das ließen sie mich immer seltener spüren.

Die Wahrheit ist: Die Momente, in denen ich alleine bin, gehören zu den besten

Kathrin Holzapfel

Aus täglichen Besuchen wurden Anrufe. Anfangs dreimal pro Woche, dann nur noch einmal. Und manche meldeten sich irgendwann gar nicht mehr. In den Gesprächen mit meinen Freundinnen ging es immer seltener um den Toten, während ich am liebsten nur über ihn geredet hätte.

Unzählige Male fiel am Ende dieser Gespräche ein Satz: „Wenn du Hilfe brauchst, melde dich.“ Einige meinten das ernst, für andere war es schnell gesagt, aber nicht so gemeint.Für mich hatte gerade ein neues Leben angefangen, das ich nie wollte. Ich brauchte Hilfe, ja, bei allem, aber ich hatte keine Kraft, mich zu melden. Einmal rief ich bei einer Freundin an und fragte, ob sie vorbeikommen könnte, was sie in diesem Moment nicht konnte. Das kann passieren, aber für mich war klar: Ein zweites Mal frage ich nicht.In den ersten Monaten nach dem Tod brauchte ich konkrete Anweisungen, wie dieses neue Leben funktionieren und was ich darin machen soll. Ich wünschte mir, dass Menschen sagen: „Pass auf, Kathrin, ich komme Mittwoch um Punkt drei vorbei und nehme dir für zwei Stunden die Kinder ab.“ Oder: „Kathrin, Dienstag komme ich und helfe dir, die Wohnung zu putzen.“ Oder: „Was genau könnte ich dir vom Bäcker mitbringen?“

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Familienausflug im Sommer 2017: Das Gefühl, dass das Interesse der Freunde nachlässt
privat

Einmal rief mich eine Freundin an und sagte: „Ich klingel nachher bei dir und stelle dir eine Suppe vor die Tür. Du musst nicht aufmachen!“ Es war genau diese Eindeutigkeit, nach der ich mich sehnte, die ich aber so nicht äußern konnte. Ich wusste doch selbst nicht, was ich brauchte. Kein Herumdrucksen, keine Floskeln, keine Ratschläge. Ich wollte einfach ausgehalten werden.Ich war und bin in psychologischer Behandlung und war zwischenzeitlich auch in einer Trauergruppe. Doch dort waren viele um die 60 und hatten ganz andere Probleme als ich. Die hatten Angst vor dem Moment, in dem sie nicht mehr unter Leuten sind und allein auf dem Sofa sitzen.Vielleicht hätte ich meine Freunde um mehr bitten, mehr von mir aus erzählen sollen. Aber ich hatte den Eindruck, dass sie mit ihrem eigenen Alltag genug um die Ohren haben. Ich entfernte mich von ihnen, hatte mit den Kindern und unseren Problemen sowieso kaum Zeit, über Freundschaft nachzudenken.

Es war die Eindeutigkeit, nach der ich mich sehnte

Kathrin Holzapfel

Einmal, mein Mann war seit einem Jahr tot, sprach ich mal wieder länger mit einer Freundin. Ich erzählte, wie sehr es mich frustrierte, dass zu manchen der Kontakt eingeschlafen war und welche Form der Hilfe ich brauchen könnte. „Wir waren und sind immer für dich da“, sagte sie, „aber eine Freundschaft beruht auf Gegenseitigkeit, und irgendwann muss auch mal Interesse von dir kommen. Du musst dich auch mal melden, dich mit uns treffen und wissen wollen, wie es uns geht.“ Für ein paar Sekunden sagte niemand etwas. Dann ich: „Sorry. Ich bin froh, dass ich das letzte Jahr überlebt habe.“

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Urlaub auf Fuerteventura 2014: „Sorry. Ich bin froh, dass ich das letzte Jahr überlebt habe“
privat

Ich frage mich oft, was für eine Freundin ich selbst bin. Ich bin keine gute. In meiner Trauer war und bin ich sehr egoistisch. Interessiere ich mich zu wenig für die anderen? Stimmt es, dass ich keinen Kopf habe für ihre Sorgen? Ich glaube schon. Muss ich mir das vorwerfen? Ich glaube nicht.Bis heute passiert es immer wieder, dass Bekannte, die ich auf dem Spielplatz treffe, mir sagen: „Boah, mein Mann ist gerade auf Dienstreise, und ich kriege zu Hause nichts mehr hin. Wie schaffst du das?“ Oder: „Ich bin ja quasi auch alleinerziehend.“ Ich sage in diesen Momenten nichts.Ich habe bisher erst ein Gespräch geführt, in dem ich dachte: Diese Freundin versteht mich. Es war vor einigen Wochen. Eine Bekannte meines Mannes war da. Wir sprachen ganz locker über ihn und schwelgten in Erinnerungen. Uns kamen die Tränen. Als es später auch um andere Themen ging, fühlte ich mich leichter: Wir hatten seinen Namen erwähnt. Wir hatten beide festgestellt, wie sehr wir ihn vermissen.Wenn die Kinder und ich heute auf Geburtstage oder Grillpartys eingeladen werden, ist es dort hingegen immer so, dass kaum einer über meinen Mann redet. Wenn ich in diesen Runden sage: „Fällt euch auf, dass Max Haare wie sein Papa hat?“, scheint es den anderen unangenehm. Die Kinder spüren diese Stimmung bestimmt auch, was mich traurig macht.

Wir spricht man mit Kindern, die einen schweren Verlust erfahren haben? Auch wenn sie trauern, sind Kinder häufig sehr neugierig, erklärt die Hamburger Trauerbegleiterin Hilda Razafindraboay. Grundsätzlich gelte: „Man muss nicht alles sagen, was wahr ist – aber alles, was man sagt, muss der Wahrheit entsprechen.“ Hier gibt sie Tipps zum Umgang mit Kindern in Trauer.

Wäre ich nicht so auf die Hilfe meiner Eltern angewiesen, hätte ich Erfurt längst verlassen. Zu seinem eigenen Vater hatte mein Mann keinen Kontakt, seine Mutter war fünf Jahre vor ihm auch an einem Hirntumor gestorben. Im Moment holen meine Eltern die Kinder fast jeden Tag von Kindergarten oder Schule ab und kommen oft auch nachmittags noch einmal vorbei. Damit sind meine Eltern die größte Unterstützung für mich.In den vergangenen zwei Jahren habe ich Freundschaften verloren – und gewonnen. Ich habe mittlerweile eine eigene Trauergruppe in Erfurt gegründet, sie ist Teil des Young Widowers Dinner Club. Dort habe ich eine Frau und zwei Männer in meinem Alter kennengelernt, die mir gut tun. Auch in der Klinik, in der ich mit Janna und Max war, habe ich neue Freunde kennengelernt. Es sind Menschen, denen muss ich nichts erklären, die verstehen mich ohne Drumrumreden.Seit mein Mann tot ist, schreibe ich auf Instagram darüber, wie es mir geht. Ich poste Fotos aus unserem Familienleben. Ich erzähle von guten und schlechten Momenten, und mittlerweile folgen mir mehr als 12.000 Menschen. Mit einigen von ihnen schreibe ich, mit anderen telefoniere ich auch, wieder andere sind zu neuen Freunden geworden und wir treffen uns.

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Es sind nicht nur Leute, die auch jemanden verloren haben. Viele kommen einfach bei mir gucken, kommentieren lieb, sind für mich da. Einmal habe ich mich mit einer Followerin getroffen. Ich war mit den Kindern in Schweden und teilte das auf Insta, da schrieb sie: Sie sei gerade in derselben Ecke unterwegs. Wir verabredeten uns und stellten fest, dass sich unsere Kinder verstehen. Daraufhin verbrachten wir den Rest des Urlaubs zusammen. Der Unterschied zwischen Instagram und meinem alten Freundeskreis ist, dass es auf Insta immer jemanden gibt, der sich für meine Gedanken interessiert. Es ist immer jemand wach. Ob diese neuen Beziehungen von Dauer sind, weiß ich zwar nicht. Aber das ist mir gerade auch egal.Bevor ich meinen Mann verlor, ging ich regelmäßig ins Fitnessstudio, ich liebte Feste in der Familie, ich nähte viel. Nun stimmt nichts mehr von alledem. Manches mache ich noch, irgendwie.Ich stelle mir gerade vor, wie es ist, wenn meine Freunde erfahren, dass ich mit dem SPIEGEL rede. Sie werden sich wahrscheinlich fragen, warum ich meine Gedanken so öffentlich mache und warum ich ihnen all das nicht persönlich sage. Das würde mich viel Überwindung kosten. Und Geduld.Ich möchte, dass sie verstehen, dass es mir auch zwei Jahre nach dem Tod meines Mannes nicht besser geht, selbst wenn es nach außen manchmal anders wirkt. Ich bin jetzt eine Frau, die krampfhaft versucht, ein Puzzle zusammenzusetzen, bei dem ein Teil fehlt._______Kann man sich verlieben, wenn man noch liebt? Davon erzählt Kathrin Holzapfel im kommenden Text. Hier spricht sie darüber, wie es sich für sie angefühlt hat, nach dem Tod ihres Mannes wieder arbeiten zu gehen. Hier geht es darum, wie sich die Beziehung zu ihren Kindern verändert hat, seit die Familie zu dritt ist.*Name geändert.

Quelle