SPD kämpft um AfD-Wähler Kümmern statt wimmern

Die SPD rutscht in Umfragen immer weiter ab. Was tun? In Rheinland-Pfalz stemmen sich Genossen gegen den Negativtrend – und wollen wieder Kümmerer vor Ort sein. Kann das funktionieren? Ein Besuch.

KUNZ/ Augenklick/ Ralf Moray
Ministerpräsidentin Malu Dreyer vor Quartierbüro in Ludwigshafen

Donnerstag, 12.07.2018  
13:55 Uhr

Lothar macht es den Genossen nicht leicht. „Isch bin ein Mensch, der politikverdrossen isch“, nuschelt er im schweren Pfälzer Dialekt. Mit der SPD habe er „nix am Hut“, seit Jahren gehe er nicht mehr wählen. Und dennoch sitzt Lothar, 59 Jahre alt, Hartz-IV-Empfänger, an diesem Vormittag im Quartierbüro der SPD in Ludwigshafen-Gartenstadt.

Das ist ja schon mal ein Erfolg für die SPD.

Er habe ein Problem mit seinem Handy, sagt Lothar. Die Kontakte vom alten Gerät sollen überspielt werden. Klaus Beißel verspricht, sich später darum zu kümmern.

Um ein Handy? Beißel leitet das Quartierbüro und nimmt auch solche Anliegen ernst. „Lothar war einer der ersten Bürger, die zu uns gekommen sind“, erzählt Beißel. „Damals hatte er ein Problem mit dem Jobcenter.“ Der SPD-Mitarbeiter schaltete sich ein und rief bei der Behörde an. Das Problem war schnell geklärt. Er habe sich über die Hilfe gefreut, sagt Lothar, „obwohl das ein SPD-Büro isch“.

Beißel – 30 Jahre alt, tätowierter Oberarm, gelernter Kfz-Mechatroniker – steht an der Spitze eines Experiments: Kann die SPD das Vertrauen zurückgewinnen, das die Partei seit 1998 verspielt hat? 16 der vergangenen 20 Jahre haben die Sozialdemokraten regiert. In dieser Zeit haben sie große Teile ihrer Wählerschaft verloren. Erst an die Linkspartei, seit 2013 auch an die AfD. Aktuell liegt die SPD in Umfragen nur noch bei 17 bis 19 Prozent, 1998 mit Gerhard Schröder waren es noch 40,9 Prozent.

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Markus Lemberger, Daniel Stich, Klaus Beißel und Anna Vogel vor SPD-Quartierbüro

Seit sechs Monaten gibt es das Quartierbüro nun. Die Idee hatte der rheinland-pfälzische SPD-Generalsekretär Daniel Stich. Er machte es zu einem bundesweiten Pilotprojekt, finanziell unterstützt vom Parteivorstand. Stich betont, es handele sich „nicht um ein klassisches Parteibüro, sondern um eine Anlaufstelle für alle Bewohner der Gartenstadt“. 16.500 Menschen leben in dem Viertel, mehr als 2000 Bürger haben einen Migrationshintergrund. Die Arbeitslosenquote liegt bei rund zehn Prozent, jeder Siebte bezieht Hartz IV.

In dem ehemaligen Schlecker-Markt, den die Genossen bezogen haben, gibt es keine großflächigen SPD-Logos. „Niedrigschwellig“ soll das Angebot sein, erklärt Beißel, im Klartext: Niemand soll von einem Parteilabel abgeschreckt werden.

Die SPD will ganz unten wieder anfangen. Wie bei dem Neubau eines Hauses: erst mal das Fundament, darauf lässt sich dann aufbauen, hoffen die Sozialdemokraten.

Die SPD, die seit Jahren eine Wahl nach der anderen verliert, will wieder Kümmererpartei sein, Ansprechpartner und Problemlöser vor Ort. „Wir müssen raus ins Leben, dahin wo es laut ist, wo es manchmal riecht, gelegentlich auch stinkt“, rief Sigmar Gabriel einst auf dem Dresdner Parteitag – und wurde dafür von Hunderten Delegierten gefeiert. Achteinhalb Jahre ist das her, umgesetzt hat die Partei Gabriels Aufruf nie.

Die Folgen des Vertrauensverlusts

Doch mittlerweile scheint der Leidensdruck so groß, dass sich etwas bewegt: Bei der Bundestagswahl erreichte die AfD in Ludwigshafen-Gartenstadt knapp 19 Prozent. Und in der Ernst-Reuter-Siedlung, einem Teil der Gartenstadt, waren es sogar um die 30 Prozent. Die AfD-Wähler in Ludwigshafen kamen mehrheitlich aus dem eigenen und aus dem Nichtwählerlager, heißt es in internen Analysen des SPD-Landesverbands.

„Wir können diese Menschen nur durch sehr viel Kleinarbeit zurückgewinnen“, sagt Malu Dreyer, SPD-Vize und Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz. „Wir müssen ihre Bedürfnisse verstehen. Und wir müssen da sein, vor Ort.“ Viele Wähler in der Gartenstadt in Ludwigshafen habe die SPD schon verloren, bevor es die AfD gab, sagt Dreyer. Nur die Folgen sind jetzt spürbarer: Statt am Wahltag zuhause zu bleiben, geben viele ihrem Protest Ausdruck – mit einer Stimme für die AfD.

„Die Leute kommen, wenn sie ein Problem haben“

Beißel und seine Kollegen erleben täglich, wie mühsam die Kleinarbeit vor Ort ist. Ihr Revier, die Ernst-Reuter-Siedlung, war ja mal eine klassische Hochburg der Sozialdemokraten, ein Arbeiterviertel. 70 bis 80 Prozent haben hier in den Achtzigerjahren SPD gewählt, erzählt der Ortsvereinsvorsitzende Markus Lemberger.

Diese Zeiten sind lange vorbei. Schon um stärkste Kraft zu bleiben, müssen die Genossen kämpfen.

Kaffeerunden, Kinderfasching, Strickworkshops, Ferienbetreuung – das Angebot im Quartierbüro ist groß. Und die Zahl der Besucher steige stetig, erzählt Beißel. 190 Bürger seien im Januar gekommen, zwischen 250 und 300 jeweils im Mai und im Juni. Wichtiger als die Veranstaltungen sei die ständige Präsenz. Beißel ist jeden Tag von 9 bis 18 Uhr hier, oft auch länger. „Die Leute kommen, wenn sie ein Problem haben und nicht wenn gerade Sprechstunde ist. Viele sind überfordert mit ihren Anträgen oder wollen einfach mit jemand reden.“

Beißel und seine Kollegen warten nicht nur, dass die Menschen zu ihnen kommen. Einmal pro Woche ziehen sie los und klingeln an den Haustüren der Ernst-Reuter-Siedlung. Häuserwahlkampf wird das klassischer Weise genannt – nur dass gerade gar keine Wahl ansteht.

Auch an diesem Tag geht Beißel mit einer Kollegin, die im Quartierbüro ein Freiwilliges Soziales Jahr macht, von Tür zu Tür. Viel Erfolg haben sie nicht. Es ist früher Nachmittag, die meisten Türen bleiben geschlossen. Wenn doch mal jemand öffnet, bekommen sie häufig die gleichen Themen zu hören: „Es muss mehr für die Sicherheit getan werden“, sagt ein älterer Mann in Jogginghose. „Meine Frau traut sich abends nicht allein auf die Straße.“ Ein anderer beklagt, es sei so schmutzig hier. Was beim Blick auf die kleinbürgerliche, aber sauber gefegte Siedlung dann doch überrascht.

Hoffnung auf Nachahmer

„Es gibt sicher Dinge, die man lieber macht als an den Türen zu klingeln“, sagt der Ortsvereinsvorsitzende Lemberger. „Es ist verdammt mühsam, sich mit den Leuten so direkt auseinanderzusetzen. Aber es lohnt sich.“ Zuletzt habe er häufig gehört: „Außer euch war keiner da.“ Auch die AfD nicht.

Die rheinland-pfälzischen Genossen setzen deshalb darauf, dass ihr Projekt Nachahmer in der Partei findet. Im Landesverband wird derzeit an einem Papier gearbeitet, wie Quartierbüros auch an anderen Orten entstehen können. Auch in kleineren Varianten mit Ehrenamtlichen.

Mitte August haben Beißel und seine Kollegen die Chance, ihr Projekt der Parteispitze vorzustellen. Dann kommt Generalsekretär Lars Klingbeil nach Ludwigshafen. Vielleicht bringt es ja was.

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Wie funktioniert die Civey-Methodik?

Das Meinungsforschungsinstitut Civey arbeitet mit einem mehrstufigen vollautomatisierten Verfahren. Alle repräsentativen Echtzeitumfragen werden in einem deutschlandweiten
Netzwerk aus mehr als 20.000 Websites ausgespielt („Riversampling“), es werden also nicht nur Nutzer von SPIEGEL ONLINE befragt. Jeder kann online an den Befragungen teilnehmen und wird mit seinen Antworten im repräsentativen Ergebnis berücksichtigt, sofern er sich registriert hat. Aus diesen Nutzern zieht Civey eine quotierte Stichprobe, die sicherstellt, dass sie beispielsweise in den Merkmalen Alter, Geschlecht und Bevölkerungsdichte der Grundgesamtheit entspricht. In einem dritten Schritt werden die Ergebnisse schließlich nach weiteren soziodemografischen Faktoren und Wertehaltungen der Abstimmenden gewichtet, um Verzerrungen zu korrigieren und Manipulationen zu verhindern. Weitere Informationen hierzu finden Sie auch in den Civey FAQ.

Warum ist eine Registrierung nötig?

Die Registrierung hilft dabei, die Antworten zu gewichten, und ermöglicht so ein Ergebnis für die Umfragen, das für die Wahlbevölkerung in Deutschland repräsentativ ist. Jeder Teilnehmer wird dabei nach seinem Geschlecht, Geburtsjahr und Wohnort gefragt. Danach kann jeder seine Meinung auch in weiteren Umfragen zu unterschiedlichen Themen abgeben.

Wie werden die Ergebnisse repräsentativ?

Die Antwort jedes Teilnehmers wird so gewichtet, dass das Resultat einer Umfrage für die Grundgesamtheit repräsentativ ist. Bei der Sonntagsfrage und beim Regierungsmonitor umfasst diese Grundgesamtheit die wahlberechtigte Bevölkerung in Deutschland. Die Gewichtung geschieht vollautomatisiert auf Basis der persönlichen Angaben bei der Registrierung sowie der Historie früherer Antworten eines Nutzers. Weitere Details zur Methodik stehen im Civey-Whitepaper.

Erreicht man online überhaupt genügend Teilnehmer?

Meinungsumfragen werden in der Regel telefonisch oder online durchgeführt. Für die Aussagekraft der Ergebnisse ist entscheidend, wie viele Menschen erreicht werden können und wie viele sich tatsächlich an einer Umfrage beteiligen, wenn sie angesprochen werden. Internetanschlüsse und Festnetzanschlüsse sind in Deutschland derzeit etwa gleich weit verbreitet – bei jeweils rund 90 Prozent der Haushalte, Mobiltelefone bei sogar 95 Prozent. Die Teilnahmebereitschaft liegt bei allen Methoden im einstelligen Prozentbereich, besonders niedrig schätzen Experten sie für Telefonumfragen ein.Es gibt also bei beiden Methoden eine Gruppe von Personen, die nicht erreicht werden kann, weil sie entweder keinen Anschluss an das jeweilige Netz hat oder sich nicht an der Umfrage beteiligen möchte. Deshalb müssen für ein aussagekräftiges Ergebnis immer sehr viele Menschen angesprochen werden. Civey-Umfragen sind derzeit neben SPIEGEL ONLINE in mehr als 20.000 andere Webseiten eingebunden, darunter auch unterschiedliche Medien. So wird gewährleistet, dass möglichst alle Bevölkerungsgruppen gut erreicht werden können.

Woran erkenne ich die Güte eines Ergebnisses?

Bis das Ergebnis einer Umfrage repräsentativ wird, müssen ausreichend viele unterschiedliche Menschen daran teilnehmen. Ob das bereits gelungen ist, macht Civey transparent, indem zu jedem Umfrageergebnis eine statistische Fehlerwahrscheinlichkeit angegeben wird. Auch die Zahl der Teilnehmer und die Befragungszeit werden für jede Umfrage veröffentlicht.

Was bedeutet es, wenn sich die farbigen Bereiche in den Grafiken überschneiden?

In unseren Grafiken ist der statistische Fehler als farbiges Intervall dargestellt. Dieses Intervall zeigt jeweils, mit welcher Unsicherheit ein Umfragewert verbunden ist. Zum Beispiel kann man bei der Sonntagsfrage nicht exakt sagen, wie viel Prozent eine Partei bei einer Wahl bekommen würde, jedoch aber ein Intervall angeben, in dem das Ergebnis mit hoher Wahrscheinlichkeit liegen wird. Überschneiden sich die Intervalle von zwei Umfragewerten, dann können streng genommen keine Aussagen über die Differenz getroffen werden. Bei der Sonntagsfrage heißt das: Liegen die Umfragewerte zweier Parteien so nah beieinander, dass sich ihre Fehlerintervalle überlappen, lässt sich daraus nicht ableiten, welche von beiden aktuell bei der Wahl besser abschneiden würde.

Was passiert mit meinen Daten?

Die persönlichen Daten der Nutzer werden verschlüsselt auf deutschen Servern gespeichert und bleiben geheim. Sie dienen allein dazu, die Antworten zu gewichten und sicherzustellen, dass die Umfragen nicht manipuliert werden. Um dies zu verhindern, nutzt Civey statistische wie auch technische Methoden.

Wer steckt hinter Civey?

An dieser Stelle haben Leser in der App und auf der mobilen/stationären Website die Möglichkeit, an einer repräsentativen Civey-Umfrage teilzunehmen. Civey ist ein Online-Meinungsforschungsinstitut mit Sitz in Berlin. Das Start-up arbeitet mit unterschiedlichen Partnern zusammen, darunter sind neben SPIEGEL ONLINE auch der „Tagesspiegel“, „Cicero“, der „Freitag“ und Change.org. Civey wird durch das Förderprogramm ProFit der Investitionsbank Berlin und durch den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung finanziert.

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