Frankreichs EU-Kandidatin durchgefallen Macron gibt von der Leyen Schuld am Goulard-Debakel

Das EU-Parlament lässt die französische Kandidatin für die Kommission mit großer Mehrheit durchfallen. Frankreichs Präsident Macron reagiert verstimmt – und hat Fragen an die künftige Kommissionschefin.

OLIVIER HOSLET/EPA-EFE/REX
Gescheiterte Kandidatin Sylvie Goulard

Donnerstag, 10.10.2019  
19:19 Uhr

Er habe doch alles mit Ursula von der Leyen besprochen gehabt, sagt Emmanuel Macron.

Es ist Donnerstagnachmittag, Frankreichs Präsident ist soeben gefragt worden, was er zur Ablehnung seiner Kandidatin für die EU-Kommission sagt. Die EU-Parlamentarier hatten Sylvie Goulard mit großer Mehrheit gestoppt. Er müsse jetzt erst einmal verstehen, wie das passieren konnte, sagt Macron am Rande einer Veranstaltung in Lyon.

Er habe von der Leyen drei Kandidaten für den Kommissionsposten vorgeschlagen, so Macron. „Präsidentin von der Leyen hat mir gesagt, sie wolle mit Sylvie Goulard zusammenarbeiten.“ Macron weiter: „Ich habe Präsidentin von der Leyen gesagt: Vorsicht!“ Er habe sie auf die Ermittlungen wegen der Scheinbeschäftigungsaffäre hingewiesen.

Von der Leyen habe ihm gesagt, dass sie von den Fraktionschefs der Europäischen Volkspartei, den Sozialdemokraten und den Liberalen, also der drei großen Gruppen im Parlament, die Zustimmung für Goulard erhalten habe.

Und jetzt das. Die Ablehnung mit 82 von 112 Stimmen. Es ist ein Klatsche für Goulard, eine Demütigung für Emmanuel Macron und in seinen Auswirkungen ein für von der Leyen erst einmal schwer überschaubares Debakel.

Nicht nur Frankreichs Präsident will wissen, wie es dazu gekommen ist. „Macrons Kandidatin abzulehnen, ist nicht das gleiche wie Viktor Orbáns Mann nach Hause zu schicken“, sagte ein EU-Diplomat.

Das klingt nach Ärger.

Fragt man Daniel Caspary, den Chef der Europaabgeordneten von CDU und CSU, dann ist die Sache ganz einfach. „Das Parlament ist aufgewacht“, sagt er. „Nachdem das Parlament aus eigener Kraft nicht in der Lage war, den Spitzenkandidatenprozess durchzusetzen, haben wir jetzt gezeigt, dass mit uns zu rechnen ist.“

Das ist sicher ein Teil der Wahrheit: Die Ablehnung Goulards ist eine Abrechnung mit Macron, jedenfalls von weiten Teilen der EVP und auch der Sozialdemokraten.

Ablehnung aus allen Ecken

Macron hatte immer wieder gezeigt, dass er die Europaparlamentarier eher als Befehlsempfänger ansieht. Als er nach der Europawahl auch noch dafür sorgte, dass keiner der Spitzenkandidaten für den Posten des EU-Kommissionspräsidenten zum Zuge kam, zog sich Macron den anhaltenden Unmut vieler Abgeordneter zu.

Goulards Finanzaffären machten es den Parlamentariern bei ihrer Revanche leicht. Scheinbeschäftigungsaffäre, 350.000 Euro vom Thinktank des schillernden deutsch-amerikanischen Milliardärs Nicolas Berggruen, und dann noch ein Ressort, in dem Sylvie Goulard Tausende Beamten mit teils völlig unterschiedlichen Interessen unter einen Hut hätte bringen müssen – bei den Anhörungen im Europaparlament sind schon Kandidaten mit weniger sperrigem Gepäck gescheitert.

Am Ende kam die Ablehnung gegen Goulard aus allen Ecken: Europäische Volkspartei, Grüne, Sozialdemokraten, die Konservativen – alle senkten den Daumen. Nur die liberale Renew Fraktion stand noch zu ihr.

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Für Ursula von der Leyen ist das Ergebnis ein harter Schlag, und zwar auch, wenn man den Zorn des französischen Präsidenten zunächst einmal beiseite lässt. Die künftige Kommissionschefin hat nie einen Hehl daraus gemacht, wie gern sie mit Goulard zusammenarbeiten wolle. Nun muss von der Leyen schleunigst Ersatz beschaffen, und noch dazu überzeugenden. Immerhin gilt es mit dem Binnenmarkt ein Kernressort der Kommission zu besetzen.

Die Zeit drängt. Wenn von der Leyens Kommission am 23. Oktober im Parlament bestätigt werden soll, müssten die neuen Kandidaten – neben einem Franzosen auch die Ersatzbewerber für die vom Rechtsausschuss des Parlaments wegen Interessenskonflikten abgelehnten Kandidaten aus Ungarn und Rumänien – spätestens am 21. Oktober in die Anhörung.

Von der Leyen forderte am Abend in einer schriftlichen Stellungnahme, den Prozess nun „zügig“ zu gestalten. Europa müsse handlungsfähig werden. Sie habe am Nachmittag mit den Fraktionschefs von EVP, Sozialdemokraten und Liberalen dazu beraten. Das Verfahren, das zur Ablehnung von drei Kandidaten geführt habe, sei „demokratisch und transparent“.

„Faire Chance“

Die Vorgänge rund um Goulards Ablehnung zeigen auch, wie schwer sich von der Leyen offenbar weiterhin tut, die Vorgänge im Europaparlament treffsicher einzuschätzen. So zeichnete sich spätestens nach Goulards erster Anhörung am Mittwoch vor einer Woche ab, dass es für sie eng werden könnte. Manfred Weber, der EVP-Fraktionschef hatte von der Leyen nach Informationen des SPIEGEL zwar zunächst signalisiert, dass Goulard eine „faire Chance“ habe, später jedoch auch darauf hingewiesen, dass die Stimmungslage sich verschlechtert habe.

In der EVP herrscht Unverständnis darüber, dass Macron nun von der Leyen für das Scheitern Goulards verantwortlich macht. „Goulard war sein Vorschlag. Dafür sollte er jetzt auch selbst die Verantwortung übernehmen“, heißt es. Eine Verabredung mit anderen Fraktionen, Goulard durchzuboxen, habe es nicht gegeben.

Das Ergebnis zeigt, wie schwierig die Arbeit mit dem nach der Europawahl völlig zersplitterten Parlament für von der Leyen noch werden kann. Das Chaos-Potenzial der 751 Abgeordneten ist so groß wie selten zuvor. Von der Leyen selbst wurde im Juli mit gerade mal neun Stimmen Mehrheit gewählt.

Wenn sie ihre ambitionierten Projekte zum Klimaschutz und andere umstrittene Gesetzesvorhaben durchbringen will, muss sie jedes Mal wieder in kraft – und zeitraubende Gespräche mit dem Parlament eintreten. Heißt: Die Parlamentarier haben mit ihrer Entscheidung gegen Goulard auch von der Leyen gezeigt, was sie in den nächsten fünf Jahren erwartet.

Und Sylvie Goulard? Sie nahm die Zurückweisung mit Größe und sagte auf liebevolle Art Adieu. Per Twitter dankte sie Macron, von der Leyen und denen, die sie gewählt hatten, für das Vertrauen. Offenbar glaubt sie selbst nicht, dass ihr Präsident die Schlacht um sie noch in eine weitere Runde führt.

Am Ende hatte sie wohl selbst nicht mehr darauf vertraut, die Dinge mit ihrem Auftritt am Donnerstagmorgen noch zu ändern. Goulard machte den Abgeordneten kein neues Angebot. Sie entschuldigte sich nicht, und sie stellte auch keinen Rücktritt in Aussicht für den Fall, dass die französische Justiz wegen der Scheinbeschäftigungsaffäre gegen sie Anklage erheben würde.

Nur im Falle einer letztinstanzlichen Verurteilung wäre sie dazu bereit, sagte Goulard. „Man tritt zurück, wenn man verurteilt ist.“

Nun ist auch das egal.

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