Vier Szenarien, wie es in Thüringen weitergehen könnte – DER SPIEGEL – Politik

Nur einen Tag nachdem er mit Stimmen der AfD-Fraktion zum thüringischen Regierungschef gewählt worden war, kündigte Thomas Kemmerich am Donnerstag an, sein Amt niederzulegen. Er wolle so den Weg für Neuwahlen freimachen, sagte der FDP-Politiker.

Verfassungsrechtlich ist der Weg zu Neuwahlen klar definiert, realpolitisch scheint er seit gestern Nacht unwahrscheinlicher. Denn die Unionsfraktion favorisiert offenbar einen anderen Weg.Wie geht es nun weiter in Thüringen? Mögliche Szenarien im Überblick:Erstes Szenario: Auflösung des Landtags und NeuwahlenDas ist der Weg, den Kemmerich nach eigener Aussage am liebsten gehen würde. Nach Artikel 50 Absatz 2 der thüringischen Verfassung sind vorzeitige Neuwahlen möglich, wenn der Landtag seine Auflösung mit der Mehrheit von zwei Dritteln seiner Mitglieder auf Antrag von einem Drittel seiner Mitglieder beschließt. Gemeinsam mit den Abgeordneten seiner Fraktion will Kemmerich auf eine Auflösung hinwirken.

Allerdings verfügt die FDP, die nur fünf Abgeordnete im Landtag stellt, allein nicht annähernd über genug Stimmen, um überhaupt nur einen Antrag zu stellen. Die für die Auflösung des Parlaments erforderliche Zweidrittelmehrheit käme nicht einmal mit den Stimmen von FDP, Linken, SPD und Grünen zustande.Man wäre auf Stimmen aus der CDU-Fraktion angewiesen – oder der AfD. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer hatte nach der Wahl Kemmerichs zwar rasche Neuwahlen gefordert. Nach nächtlichen Verhandlungen mit dem Landesverband ihrer Partei läuft es nun aber eher nicht auf Neuwahlen hinaus. Stattdessen wolle man mit den bestehenden Mehrheitsverhältnissen im Landtag einen Weg aus der Krise suchen, sagte Kramp-Karrenbauer. Zugleich betonte sie: „Klar ist auch, sollten diese Gespräche scheitern, stehen am Ende unausweichlich Neuwahlen.“

Linke, SPD und Grüne wirken fürs Erste darauf hin, dass Bodo Ramelow doch noch zum Ministerpräsidenten gewählt wird – im Rahmen der bestehenden Mehrheitsverhältnisse: ohne Auflösung des Landtags, ohne Neuwahlen.Zweites Szenario: Neuwahlen nach verlorener VertrauensfrageDer zweite Weg zu vorgezogenen Neuwahlen, den die Verfassung vorsieht, ist der über die verlorene Vertrauensfrage. Demnach wird neu gewählt, wenn der Landtag nach einem erfolglosen Vertrauensantrag des Ministerpräsidenten nicht innerhalb von drei Wochen einen neuen Regierungschef wählt.Kemmerich will die Vertrauensfrage nur dann stellen, wenn sich die für eine Auflösung erforderliche Zweidrittelmehrheit nicht findet. Und genau das zeichnet sich ja aktuell ab.

Linke, SPD und Grüne haben den FDP-Politiker bereits aufgefordert, unverzüglich zurückzutreten und ihm ein Ultimatum gesetzt: „Wir erwarten, dass Herr Kemmerich sich bis zum Sonntag abschließend erklärt“, teilten die drei Parteien mit. Linke, SPD, Grüne und FDP könnten Kemmerich das Vertrauen verweigern – auch über möglichen Widerstand von CDU und AfD hinweg. Denn eine Zweidrittelmehrheit ist bei der Vertrauensfrage anders als bei der Auflösung nicht erforderlich.Allerdings scheint derzeit unwahrscheinlich, dass in den dann verbleibenden drei Wochen nach der verlorenen Vertrauensfrage kein neuer Ministerpräsident gewählt wird.Drittes Szenario: Wahl eines neuen Ministerpräsidenten nach verlorener Vertrauensfrage oder Kemmerich-RücktrittDenn Linke, Sozialdemokraten und Grüne haben ihr Ultimatum für Kemmerich mit der Aufforderung an CDU und FDP verbunden, bei einer weiteren Abstimmung im Landtag „die Wahl von Bodo Ramelow aktiv zu ermöglichen“.Die Christdemokraten haben ihrerseits fürs Erste das Ziel ausgerufen, „Stabilität im derzeitigen Parlament herzustellen“. Die CDU werde entsprechende „Bemühungen unter Wahrung ihrer Grundsätze nicht blockieren“, sagte Kramp-Karrenbauer. Bedeutet wohl: Im Fall einer Vertrauensfrage durch Kemmerich würde sich die Partei einer Wiederwahl Ramelows nicht widersetzen.Deshalb ist dieses Szenario das derzeit wahrscheinlichste.Die „Thüringer Allgemeine“ berichtet unter Berufung auf Parteikreise, dass sich die CDU bei einem erneuten Wahlantritt Ramelows im Landtag geschlossen oder zu großen Teilen enthalten könnte. Nach seiner Wahl könnte der Linke die ursprünglich geplante rot-rot-grüne Minderheitsregierung bilden. Möglich wäre aber auch die Projektregierung, wie sie zuletzt unter anderem Ex-CDU-Ministerpräsident Dieter Althaus vorgeschlagen hatte. Damit wäre in einem dritten Wahlgang die nötige relative Mehrheit für den Linken gesichert.Das Vorgehen ist allerdings auch nicht frei von Gefahren. Denn die AfD könnte womöglich sogar eine Wahl Ramelows mittragen. Das würde zwar allen vergangenen Beteuerungen der Rechtsaußenpartei widersprechen. Es wäre aber eine Möglichkeit, nach Kemmerich – der von einem „Makel der Unterstützung durch die AfD“ gesprochen hatte – auch Ramelow mit einem solchen zu behaften.Das Manöver wäre riskant, die Gefahr von Stimmverlusten wohl beträchtlich, weshalb es äußerst überraschend wäre – selbst für die Thüringer AfD um Björn Höcke, dessen völkisch-nationalistisches „Flügel“-Netzwerk vom Verfassungsschutz als „Verdachtsfall“ im Bereich Rechtsextremismus eingestuft worden ist.Viertes Szenario: MisstrauensvotumDiese Möglichkeit wurde von Linken, SPD und Grünen Berichten zufolge noch sondiert kurz bevor Kemmerich vor die Presse trat und verkündete, er wolle sein Amt niederlegen. Ein konstruktives Misstrauensvotum ist aber nur möglich, wenn der Landtag mit absoluter Mehrheit einen neuen Ministerpräsidenten wählt. Über eine solche Mehrheit verfügen Linke, Sozialdemokraten und Grüne aber gerade nicht.Dieses Szenario dürfte deshalb nur relevant werden, wenn Kemmerich entgegen seiner Ankündigung nicht die Vertrauensfrage stellt. Das aber ist sehr unwahrscheinlich.
Icon: Der Spiegel

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