Die Lage am Freitag Liebe Leserin, lieber Leser,

im dritten Anlauf scheint es endlich zu klappen. Die Schiedskommission Charlottenburg-Wilmersdorf im SPD-Landesverband hat gestern verkündet, dass Thilo Sarrazin die Partei verlassen soll. Das ist einerseits logisch, denn Sarrazin war in den vergangenen Jahren eher auf dem stramm rechten Flügel der AfD unterwegs. Gesichert ist der Rauswurf aber noch immer nicht. Sarrazins Anwalt kündigte umgehend an, Einspruch einzulegen.

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Heft 28/2019

Carola Rackete über die dramatische Rettungsfahrt ihrer „Sea-Watch 3“

Dass die SPD den früheren Berliner Finanzsenator loswerden wollte, ist sehr gut nachvollziehbar. Mit der Veröffentlichung seines Buches „Deutschland schafft sich ab“ hatte Sarrazin eine Zäsur in der deutschen Nachkriegsgeschichte eingeleitet. Es hatte entscheidenden Anteil daran, dass nationales oder gar völkisch-rassistisches Denken wieder salonfähig wurde.

Die Pegida-Bewegung oder die AfD fielen ja nicht plötzlich vom Himmel, sie hatten einen Vorlauf. Sarrazin war quasi ihr Wegbereiter, der geistige Vater der neuen „deutschen“ Welle, man könnte auch sagen: der geistige Brandstifter. Es sei hier nur an einen seiner vielen alten Genetik-Gassenhauer erinnert. Der These von der Überlegenheit der biodeutschen Rasse etwa, wonach Menschen bestimmter Herkunft niedrigere „kognitive Kompetenzen“ hätten.

Warum aber kämpft Sarrazin so verbissen um sein rotes Parteibuch? Das hatte vor allem ökonomische Gründe. Sarrazin war in den vergangenen Jahren als Buchverkäufer unterwegs. Als Mitglied von AfD oder NPD wäre er da öffentlich weniger interessant gewesen. Deshalb klammert er sich bis heute an seine SPD-Mitgliedschaft. Das Parteibuch dient in erster Linie als Vehikel für den Buchverkauf. Hätte Sarrazin einen gewissen Rest-Anstand gehabt, hätte er jeden zweiten Euro aus seinen Erlösen an die SPD spenden müssen.

Hymne im Sitzen

Wolfgang Kumm/ DPA

„Ich bin nie ganz gesund gewesen“, sagte Helmut Schmidt einst über seine Zeit als Bundeskanzler. Er sei noch keine 50 Jahre alt gewesen, als er gemerkt habe, dass ihm das Leben als Politiker zusetze. „Ich bin wahrscheinlich an die hundert Mal besinnungslos vorgefunden worden. Meistens nur wenige Sekunden, manchmal aber auch Minuten. Das haben wir mit Erfolg verheimlicht.“ Es habe ihn aber nicht daran gehindert, seine politische Pflicht zu tun.

Gemessen an diesem Bekenntnis wirkt die Aufregung um die zitternde Angela Merkel dieser Tage lächerlich. Um ein viertes öffentliches Zittern innerhalb weniger Wochen zu verhindern, wählte sie beim gestrigen Besuch der dänischen Ministerpräsidentin Mette Frederiksen eine äußerst merkelige, also pragmatische Lösung: Sie verfolgte die militärischen Ehren samt Hymnen einfach im Sitzen. Und Frederiksen saß aus Solidarität gleich mit. Wie immer in diesen Tagen fuhren die Kameras im Zoom-Modus ihren Körper ab, auf der Suche nach einem flatternden Ärmel oder Hosenbein. Aber sie konnten partout nichts finden.

Alle, die viel mit Merkel zu tun haben, berichten, dass sie ihrer Arbeit wie eh und je nachkomme, dass es keine Anzeichen von Schwäche oder sonstige Auffälligkeiten gebe. Nur beim öffentlichen Herumstehen eben. Sollte sie in nächster Zeit ein wenig mehr Sitzen als Stehen, wäre das keine Regierungskrise, sondern eher eine nette Abwechslung.

Der dauerohnmächtige Helmut Schmidt wurde übrigens fast 97 Jahre alt. Und er blieb, zumindest im Kopf, bis zu seinem Tod auf Bundeskanzlerniveau.

Zerbricht die Koalition an von der Leyen?

Francois Lenoir/REUTERS

Als hätte die ehemals Große Koalition nicht schon genug Probleme! Nun steht ihr ein neuer Krach bevor, sollte Ursula von der Leyen am Dienstag bei der Wahl zur Chefin der EU-Kommission scheitern. Denn die deutschen Genossen in Straßburg sind weiter fest entschlossen, die Kandidatin durchfallen zu lassen.

Sie sei sich mit der SPD-Führung einig, dass man mit der Persönlichkeit von der Leyen „vernünftig“ umgehen müsse, erklärte Merkel gestern in Berlin. „Manches, was da gestern in Brüssel stattgefunden hat, würde ich jetzt nicht in diese Kategorie hineinstecken.“

Worauf sie anspielte: Vor von der Leyens Besuch bei der sozialdemokratischen Fraktion am Mittwoch verteilten die Kollegen aus Deutschland ein Papier in englischer Sprache. Titel: „Warum Ursula von der Leyen eine unzulängliche und ungeeignete Kandidatin ist“. Enthalten war so ziemlich alles, was man gegen die bisherige Verteidigungsministerin ins Feld führen kann. Die Berateraffäre bei der Bundeswehr. Die „Kostenexplosion“ bei der Sanierung des Marineschulschiffes „Gorch Fock“. Selbst an ihre umstrittene Doktorarbeit wurde noch mal erinnert. Die Bundeswehr sei in einem armseligen Zustand, hieß es. Von der Ministerin ausgerufene Trendwenden seien nur Marketingaktionen gewesen. Schützenhilfe klingt irgendwie anders.

Und so ist ein Scheitern ihrer Kandidatur durchaus möglich. Grüne und Linke haben bereits erklärt, von der Leyen nicht zu unterstützen. Die Liberalen äußerten sich skeptisch und verlangten konkrete Zusagen vor der Wahl.

Von der Leyen wird am Dienstagmorgen die Rede ihres Lebens halten müssen. Es scheint, als stünde nicht nur ihr persönliches Schicksal auf dem Spiel, sondern auch das der Regierung in Berlin.

Gewinner des Tages…

JUSTIN LANE/EPA-EFE/REX

… ist der Dow-Jones-Index. Gerade emotional veranlagte Menschen drücken ihm seit Langem die Daumen, dass er endlich sein großes Ziel erreicht: die 27.000-Punkte-Marke! Gestern war es so weit. Millionen Menschen hatten Tränen in den Augen. Oder vielleicht auch nicht. US-Präsident Donald Trump jedenfalls verkündete die frohe Botschaft per Twitter mit einem Ausrufezeichen am Satzende – und knapp hunderttausend Menschen dankten ihm mit einem Amen (beziehungsweise Like). Diesen Meilenstein in der Geschichte der Menschheit wird die Menschheit lange nicht vergessen. Außer die Milliarden Menschen vielleicht, denen der Rekord herzlich egal sein kann, weil sie eh nichts davon haben.

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Einen heiteren Freitag wünscht Ihnen,Ihr Markus Feldenkirchen

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